Читать книгу Vom Glück zu leben - Titus Müller - Страница 24

Geschlossene Augen

Оглавление

Bei meinen Lesungen geschieht es mitunter, dass die Zuhörer die Augen schließen. Zu Anfang war mir das sehr unangenehm. Ich dachte: Entweder schlafen sie oder sie wünschen sich weit fort, weil sie sich langweilen. Mir ist der Schweiß ausgebrochen, und ich habe immer schneller gesprochen, damit die Qual für die Zuhörer rasch zu Ende geht.

Mit der Zeit bemerkte ich, dass nach den Lesungen häufig genau jene „Schläfer“ zu mir kamen und sich bedankten. Sie sagten, sie hätten sich alles so wunderbar vorstellen können. Ich habe begriffen: Wer die Augen schließt, hört besser zu. Er schaltet ein Sinnesorgan aus, um das andere zu stärken. Er gibt seiner Vorstellungskraft Raum.

Wir sehen den ganzen Tag. Bis zum Zubettgehen sind unsere Augen geöffnet und nehmen Eindrücke auf. Wir erkennen andere Menschen, lesen Werbeanzeigen und Straßenschilder, koordinieren unsere Bewegungen. Es ist fast unmöglich, sich die Welt ohne das Sehen vorzustellen.

Wie stellt sie sich einem Blinden dar? Sind für ihn Geräusche wichtiger und die Tastempfindungen, die ihm die Fingerspitzen melden? Baut sich seine Welt anders auf, fühlt sie sich anders an als unsere?

Ich hoffe, dass ich damit keinen blinden Menschen beleidige: Manchmal wandere ich mit geschlossenen Augen die Straße hinunter. (Ich gucke selbstverständlich vorher, ob ein Briefkasten oder ein Laternenpfahl im Weg stehen.) Es ist eine kleine Mutprobe für mich. Wie viele Schritte wage ich? Mein Herz schlägt dabei kräftig gegen die Rippen, und ich muss große Selbstbeherrschung aufwenden, um nicht die Augen aufzureißen. Gleichzeitig werden meine Ohren hellwach. Ich lausche nach Autos, nach anderen Fußgängern, nach dem Knirschen unter meinen Schuhen. Öffne ich dann die Augen wieder, bin ich unendlich dankbar, dass ich sehen kann.

Manchmal, wenn ich spät in der Nacht nach Hause komme, schalte ich kein Licht an. Ich taste mich durch die dunkle Wohnung, versuche mich daran zu erinnern, wo welches Möbelstück steht. Ich erschrecke über etwas Weiches unter meinen Füßen (habe ich da einen Pullover liegen gelassen?), staune, weil ich die Entfernung zum Stuhl, Tisch oder Bett völlig falsch eingeschätzt habe. Die Hände strecke ich nach vorn, um nirgendwo anzustoßen.

Warum tue ich das? Ich möchte mein Leben, meine Umgebung und mich selbst neu sehen. Die Wohnung ist so vertraut – um das Vertraute zu durchbrechen, schalte ich den Sehsinn aus. Eine neue Perspektive einzunehmen hilft mir, mich nicht von der Gewohnheit benebeln zu lassen.

Haben Sie einmal Ihr eigenes Gesicht betastet? Schließen Sie die Augen! Ihre Fingerspitzen haben sehr feine Nerven, die „sehen“ können. Befühlen Sie Ihre Nase, Ihren Mund, die Stirn, die Wangenknochen. Sie „sehen“ sich auf diese Weise mit dem Tastsinn. Wer sind Sie? Wie viel macht das Äußere aus oder wie wenig spiegelt es Ihr Inneres?

Das Gefühl, außerhalb seiner selbst zu stehen, einen Fremden neu kennenzulernen – es wird noch stärker, wenn Sie die linke Hand nehmen und sie von oben von der Stirn her abwärts wandern lassen. (Tun Sie das nur, wenn Sie allein sind. Es sieht albern aus.) Das ist Ihr Gesicht! Das sind Sie.

Wenn Sie jetzt wieder ganz normal aus den Augen schauen, wird Ihnen sicher bewusst, welches Glück es ist, Farben wahrnehmen zu können, Entfernungen, Schönheiten. Es gibt Menschen, denen diese Freude entgeht. Die wären entrüstet, wenn sie wüssten, wie selbstverständlich uns die Fähigkeit ist, sehen zu können.

Wer die Geliebte eine Weile entbehrt, lernt Sehnsucht kennen. Einmal die Augen zu schließen, hat den gleichen Effekt. Hinterher möchten wir Farben und Formen am liebsten umarmen.

Vom Glück zu leben

Подняться наверх