Читать книгу Vom Glück zu leben - Titus Müller - Страница 17
Du hast Zeit
ОглавлениеNeulich erhielt ich die folgende E-Mail: „Was sich Millionen Menschen auf der ganzen Welt schon immer gewünscht haben, ist jetzt Wahrheit geworden. Es gibt jetzt ein revolutionäres, konkurrenzloses Produkt, mit dem Sie in nur 30 Minuten jünger aussehen. Sie haben richtig gelesen, in 30 Minuten erzielen Sie ein unglaubliches Resultat. Und der wirkliche Beweis ist, Sie können es vollkommen kostenlos testen und die Wahrheit sofort im Spiegel sehen. Doch das Beste ist: Produkt xy muss nur einmal gekauft werden und hält ein Leben lang. Und der Preis ist ein Geschenk!“
Weil ich mich amüsieren wollte über die neue Masche, Leuten Geld abzunehmen, sah ich mir die Website der Firma an. Die Verjüngungsmethode, die sie verkauft, ist verblüffend einfach:
„Egal zu welcher Tageszeit, mit xy können Sie in wenigen Minuten Ihr Aussehen verjüngen. Nehmen Sie sich eine halbe Stunde Zeit, legen Sie die CD ein und entspannen sich auf dem Bett oder Sofa.“
Kein Wunder, dass die Firma mit kostenlosem Ausprobieren werben kann. Ihr Produkt funktioniert wirklich. Nicht wegen der CD, die beruhigende Einflüsterungen abspielt, sondern wegen der Ruhepause, die sich die Käufer sonst nicht gegönnt hätten.
In früheren Jahrhunderten wurde viel über die Faulheit geschrieben. Da gab es in den Märchen den Faulpelz, der es sich auf der Ofenbank bequem macht, anstatt zu arbeiten, oder den Reichen, der sich nicht die Finger schmutzig machen will. Jungen Männern wurde empfohlen, sich eine fleißige Frau zu suchen, und umgekehrt. Müßiggang war aller Laster Anfang.
Heute, denke ich, ist übermäßiger Fleiß bei vielen das Laster. Wir rattern wie kleine Aufziehpuppen durch den Tag, ständig überdreht, hastig, aufmerksam. Leistung ist Arbeit pro Zeit, pflegte mein Physiklehrer zu sagen, wenn wir die Klassenarbeiten abgeben sollten und jemand noch weiterschreiben wollte. Und Leistung wird heute sehr ernst genommen. Arbeite möglichst viel in möglichst kurzer Zeit, heißt die Maxime.
Das Merkwürdige ist, dass wir auch nach Arbeitsschluss nicht zur Ruhe kommen. Wir haben regelrecht ein schlechtes Gewissen, uns hinzusetzen und auszuspannen. Da muss erst für teures Geld eine CD erworben werden, die das Ausruhen zum medizinischen Ereignis macht. Wer setzt sich vor das Aquarium und schaut seinen Fischen zu? Wer legt sich auf eine Wiese und betrachtet die Wolken? Wer kennt noch Dämmerstündchen mit gegenseitigem Geschichtenerzählen?
Ein Wirt sagte mir vergangene Woche zu einem Lebensstil mit Saufen, Frauen und viel Geld: „Die Fackel, die hell brennt, ist schneller runtergebrannt. Aber dafür brennt sie eben heller.“
Wir wollen hell brennen heutzutage. Wir wollen intensiv leben, dem Leben sozusagen das Mark aus den Knochen saugen. Neben die Formel „Leistung ist Arbeit pro Zeit“ stellen wir den Grundsatz „Leben ist Vergnügen pro Zeit“. Das Ziel ist, so viel Spaß wie nur irgend möglich in die kurze Lebenszeit hineinzupressen, die wir vor uns sehen.
Nun ist das Erstaunliche: Christen glauben an eine unbegrenzte Lebenszeit, weil Gott versprochen hat, ihnen Unsterblichkeit zu verleihen – aber gerade sie sollen ihr Leben hier auf der Erde verlängern. Wir sollen Gott als den Schöpfer ehren, indem wir unseren Körper und unsere Seele gut behandeln.
Gott zäumt das Pferd also von der anderen Seite auf. Nicht die Arbeitsmenge oder die Fülle an Vergnügen versucht er zu erweitern, indem er immer mehr davon in immer knappere Zeitbudgets presst. Gott schenkt Zeit. Hier. Und auf der neuen Erde. Verblüffend einfach, nicht wahr?
Eine CD brauche ich nicht, um das Entspannen als medizinisches Event zu deklarieren. Das Kommando kommt von meinem Schöpfer höchstpersönlich: Mein Kind, ruh dich aus. Du hast Zeit. Viel Zeit.