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Vom Fernwehschrei einer Lokomotive

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Es gibt Sätze, die machen mich glücklich wie ein Ferientag am Meer. Begegnen Sie auch manchmal solchen Schätzen? Zuletzt fand ich in Brigitte Reimanns Roman Franziska Linkerhand den Ausdruck vom „Fernwehschrei einer Lokomotive“. Ein Genuss, sich das laut vorzulesen. Der Fernwehschrei einer Lokomotive. Hach! Schade, dass die neuen Loks den nicht mehr kennen. Zwar bin ich als Kind fürchterlich erschrocken, wenn eine Dampflok pfiff, aber dem Charme dieses zischenden Ungetüms konnte ich mich trotzdem nicht entziehen. Öffnete man ein Fenster auf der Fahrt, zog Kohlengeruch ins Abteil. In den Kurven konnte man die Lok sehen, wie sie dem Zug voranstampfte. Und man konnte sie hören! Mit ihrem wütenden Schnaufen verriet sie die große Anstrengung, die es kostet, eine Kette von tonnenschweren Bahnwaggons zu ziehen. Und der Fernwehschrei? Nun, das laute Pfeifen, das durch die Landschaft hallte – es verkündete der Weite das Herannahen der Lokomotive wie ein Schlachtruf: Wir kommen!

Sind es nur die Erinnerungen an frühere Bahnfahrten, die mein Herz hüpfen lassen, wenn ich vom „Fernwehschrei einer Lokomotive“ lese? E. A. Rauter erklärte es einmal so: „Faszination und Schönheit von Texten entstehen nicht durch Wörter. Sie entstehen durch Übereinstimmung von Wörtern mit Dingen.“ Weil die Bezeichnung „Fernwehschrei einer Lokomotive“ so genau das trifft, was ich empfinde, verursacht sie bei mir Glücksgefühle. Es ist schön, wenn jemand ausdrücken kann, was ich selber schon immer gefühlt habe.

Manchmal ist die Treffsicherheit der Worte überraschend. Günter Grass hat einmal beschrieben, wie ein Hund frisst: „Mit gebeugtem Nacken steht er da und stößt beim Kauen den Kopf vor, indem er den Bissen gleichsam immer von Neuem fängt und ihn sich im Maule zurechtwirft.“ So fressen Hunde! Jeder hat das schon einmal gesehen.

Wenn wir lesen, vergleicht unser Gehirn die Formulierung mit den gespeicherten Empfindungen, Sinneseindrücken oder Bildern. Leo Tolstoi schrieb: „Der Mensch, der einen wirklich künstlerischen Eindruck empfängt, hat das Gefühl, dass er das, was ihm die Kunst enthüllt, bereits kannte, aber außerstande war, den Ausdruck dafür zu finden.“ Deshalb verursacht Lesen Glücksgefühle. Jemand hat Worte gefunden für unsere Erinnerungen.

Und selber zu schreiben?

Nun mal halblang, sagen Sie. Aber warum? Man hat uns Ehrfurcht vor dem Schreiben beigebracht in der Schule. Weil wir berühmte Autoren bewundern und beknien mussten, wagen wir es nicht mehr, selbst Worte aneinanderzureihen. Wie absurd! Es gibt begabte Sänger – sollten sich deshalb alle anderen Menschen verbieten, an einem sonnigen Morgen ein Lied zu trällern?

Also: Schreiben Sie! Das Glücksgefühl ist nämlich noch stärker, wenn Sie selbst die Formulierung gefunden haben, die Ihren Hund beschreibt, die Lokomotive oder was auch immer Ihnen wichtig ist. Und Niedergeschriebenes überdauert viele Jahre, ohne an Kraft zu verlieren. Schreiben Sie einen Brief, um ihn in zehn Jahren wieder zu lesen (oder dem Empfänger in zehn Jahren zu geben). Schreiben Sie eine Geschichte! Bringen Sie ein Erlebnis zu Papier, das Sie nicht vergessen möchten. Wer sich darauf einlässt, wird merken, dass Schreiben eine faszinierende Sache ist.

Als Kinder haben wir gelernt, Gedanken in Wörter zu verwandeln, und Wörter in Buchstabenketten und Buchstabenketten in Kringel auf dem Papier. Das war nicht umsonst, hoffe ich? Eine spannende Wunderwelt gilt es zu entdecken.

Vom Glück zu leben

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