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Mahnungen am Kühlschrank

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Sie schreiben sich Listen. Sie kleben Zettel an den Spiegel, haften Mahnungen an den Kühlschrank, schreiben mit Rot in den Kalender. Was zu tun ist, ist in der ganzen Wohnung präsent. Im Flur stehen die Druckerkartuschen, die Sie wegbringen wollen. Auf dem Kalender sind die Geburtstage der Freunde markiert, denen Sie unbedingt schreiben müssen. Die Gläser wollten Sie in den Keller räumen, die Inliner mahnen Sie, doch mehr an die frische Luft zu gehen und sich zu bewegen. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem Sie vierundzwanzig Stunden am Tag von dieser dunklen Kraft gelenkt werden, die wir „schlechtes Gewissen“ nennen.

Im Religionsunterricht haben wir gelernt, dass Gott durch das Gewissen zu uns spricht. Aber über diesen Kanal dringt er längst nicht mehr zu uns durch, denn er ist dauernd besetzt. Mach dies! Mach das! Hast du nicht endlich jenes erledigt? Wenn das Gottes Stimme wäre, dann hätte er sich Marionetten erschaffen. Gott ist sicher nicht derjenige, der uns durch den Tag scheucht wie ein Sklaventreiber.

Das Absurde ist, dass wir unter der Wirkung des schlechten Gewissens bald auch die Dinge, die uns Freude bereiten, wie ein Pflichtprogramm absolvieren. Freundschaften werden zu belastenden Sorgen: Ich habe mich viel zu lange nicht gemeldet, er denkt sicher, er sei mir nicht wichtig. Und der Geburtstag, wenn ich den vergesse! Er hat mir doch letztes Jahr die DVD geschenkt. Da, die Postkarte, wollte ich die nicht längst beantworten?

Selbst in der Freizeit haken wir Pflichtprogramme ab: Schwimmen ist gut für den Rücken. Wollte ich nicht Spanisch lernen? Wozu habe ich die teuren Kassetten gekauft, wenn ich jetzt nicht Vokabeln büffle? Mist, heute war ich überhaupt nicht an der frischen Luft. Esse ich gesund genug? Ich sollte mehr Obst essen. Ich sollte … Ich müsste … Wann fange ich endlich damit an …?

Es gibt eine Frage, die unser Schlechtes-Gewissen-Monster in null Komma nichts besiegt. Sie lautet: Warum mache ich das? Unterschätzen Sie diese Frage nicht. Sie ist ein mächtiges Instrument.

Probieren Sie es aus! Sie erledigen den Ich-sollte-mal-an-der-frischen-Luft-gewesen-sein-Spaziergang, rasche Schritte einmal um den Block, das muss reichen. Die Laune ist unten, richtige Entspannung will sich nicht einstellen. Fragen Sie sich: Warum mache ich das? Warum gehe ich spazieren? Weil der Arzt gesagt hat, ich muss häufiger an die Luft? Gehe ich für den Arzt spazieren? Nein. Atmen Sie tief ein. Merken Sie etwas? Kühle Luft strömt in Ihre Lungen. Sie streicht Ihnen über das Gesicht. Sand knirscht unter den Füßen, der weite Himmel entspannt die Augen. Sie gehen spazieren, weil Sie es gern tun. Weil Sie sich wohlfühlen dabei.

Für hartnäckige Fälle gibt es die Steigerungsform: Warum habe ich das früher gemacht? Sagen wir, Sie schreiben einem Freund eine Karte. Auf die Frage: Warum mache ich das? fällt Ihnen nur ein, dass der Freund Ihnen ja auch geschrieben hat, und dass es sich so gehört, Post zu beantworten; dass Sie die Freundschaft erhalten wollen, dass die blöde Karte schon seit Wochen herumliegt und Sie das endlich erledigen wollen, basta! Überlegen Sie mal: Warum haben Sie früher Karten geschrieben?

Oh, früher! Da war es ein Abenteuer, eine Karte zu schreiben und sich vorzustellen, wie sie die weite Reise macht, wie der Freund sie schließlich aus dem Briefkasten nimmt und liest. Früher hat man neckische Dinge geschrieben, Kleinigkeiten. Man hat ein Strichmännchen an den Rand gemalt, um den anderen zum Schmunzeln zu bringen. Man hat jeden Tag auf seine Antwort gewartet und schließlich die Antwortkarte wie einen Schatz in die Wohnung getragen, um sie in einer Art Zeremonie dreimal zu lesen. Früher waren Postkarten Botschaften aus einer fernen Stadt, die auf abenteuerlichem Weg zu einem gefunden hatten. (Auf E-Mails ähnlich anzuwenden: allein die Vorstellung, wie sie durch die Kabel in die Ferne flitzen …)

Wenn Ihnen das schlechte Gewissen den Tag vermiesen will, halten Sie einmal inne und fragen Sie sich, warum Sie das tun, was Sie gerade tun. Und ob es nicht auch einfach eine Freude sein kann.

Vom Glück zu leben

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