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Gedichte, Mühlen und verlassene Bahnwärterhäuser
ОглавлениеIch bin ein Mensch, der die Zeit sekundenweise zusammenklaubt. Auf dem Heimweg krame ich den Haustürschlüssel schon im Laufen heraus, um nicht vor der Tür damit Zeit zu vergeuden. Ich überquere die Straße schräg, kürze Ecken ab, um einige Meter einzusparen. Mit pochendem Gewissen gehe ich bei Rot über die Ampel – zuvor ein kurzer Blick, ob Kinder in der Nähe sind –, meine Schritte greifen weit, mein Gang ist der eines gehetzten Großstädters, gleichgültig, ob es einen Termin einzuhalten gilt oder nicht. Oft verlasse ich das Haus mit einem Honigbrot in der Hand, das ich unterwegs verspeise. Ich knöpfe den Mantel erst auf der Straße zu, haste voran, um einen Bus nicht zu verpassen.
Dabei müsste ich es besser wissen. So oft schon habe ich gelernt: Wege sind herrlich! Sie gehören zu den schönsten Erfahrungen auf dieser Erde. Vergangene Woche beispielsweise war ich in einer dörflichen Gegend unterwegs, und der Bus, der mich zum Zielort bringen sollte, bog anders ab als erwartet. Ich musste aussteigen und den Rest des Weges über die Felder laufen. Passenderweise trug ich im Rucksack zehn schwere Bücher, obendrein ein neues DSL-Modem, mit dessen Hilfe ich, so hatte ich dem Verlag versprochen, am Nachmittag ein Romanmanuskript schicken würde. Aber was half es? Rennen war nicht möglich, voll bepackt, wie ich war.
Ich sah die schönsten Feldwege. Sanft geschwungene Hügel, herbstliche Waldränder machten mich glücklich. Ich atmete frische Landluft. Ich entdeckte einen Apfelbaum und mit ihm saftig-knackige Wegzehrung. Ich führte ein langes Gespräch mit Gott, das sonst an diesem Tag – was sage ich, in dieser Woche – nicht stattgefunden hätte.
Seltsam, dass diese Lektion so schwer zu erlernen ist. Immer wieder muss ich darauf gestoßen werden. In Berlin gab eine S-Bahn den Geist auf, wir mussten entlang der Gleise zur nächsten Station wandern – genau die Ruhepause im hektischen Tagesablauf, die ich brauchte.
Es gibt Menschen, die nicht wie ich falsch abbiegende Landbusse oder defekte S-Bahnen brauchen. Menschen, die wissen, was eine zurückzulegende Strecke an Möglichkeiten bietet. Mein Freund Sören zählt zu ihnen. Sören ist Harfner, wir reisen oft gemeinsam zu Lesungen, die er auf seinem Instrument begleitet. Ich plädiere für die Autobahn, er bleibt stur: „Wir treffen uns zwei Stunden früher und fahren die Landstraße. Und ich bringe noch einen Freund mit, du wirst sehen, es wird gut.“
Es wurde gut. Wir wechselten uns ab damit, Gedichte zu rezitieren, uns Mühlen, verlassene Bahnwärterhäuser zu zeigen – Sören: „So ein Bahnwärterhaus will ich mir eines Tages kaufen“ –, sinnierten, lachten, und am ganzen Lesungsausflug war die Fahrt das Beste.
Was für kurze Wege gilt, gilt für lange Reisen genauso. Der englische Autor Gilbert K. Chesterton schrieb in seinem Buch Ketzer: „Es ist zweifellos ein begeisterndes Gefühl, in einem Motorwagen durch die Welt zu sausen und Arabien als einen Sandwirbel, China als ein vorüberhuschendes Reisfeld zu erleben. Aber Arabien ist kein Sandwirbel, und China ist kein vorüberhuschendes Reisfeld. Beides sind alte Zivilisationen mit eigentümlichen Vorzügen, die wie Schätze in ihnen vergraben liegen. Wenn wir sie verstehen wollen, dann dürfen wir nicht als Touristen oder Ermittler kommen, sondern müssen die Treuherzigkeit von Kindern und die unendliche Geduld von Dichtern mitbringen.“
Geduld für den Weg – etwas, das wir auch im Zeitalter der Überschallflugzeuge nicht vergessen sollten.