Читать книгу Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 10

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Cato Isaksen ging ins Treppenhaus und wählte auf seinem Mobiltelefon die vertraute Nummer des Reihenhauses in Asker. Am anderen Ende der Leitung ertönte Gards laute Stimme. Cato fiel auf, wie grob die Stimme seines ältesten Sohnes in letzter Zeit geworden war. »Ich habe ein Problem«, sagte er und registrierte gereizt, daß ihn das kalte Echo zwischen den Steinwänden nervte. »Wir haben einen neuen Fall.«

»Ach so.«

Er konnte nicht erkennen, ob sein Sohn enttäuscht war oder nicht. Gards Stimme hatte keine Nuancen, sie enthielt keinerlei hörbare Hinweise. »Ich hole euch ein bißchen später ab.«

»Ich glaube, Vetle muß heute zum Fußball.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Es fängt um sechs an, du kannst uns ja in Føka abholen.«

»Es geht darum, daß ich nicht weiß, wann ich hier wegkann«, sagte Cato Isaksen und spürte seine wachsende Gereiztheit wie einen Druck hinter der Stirn. Bente hatte nichts von einem Fußballspiel gesagt. Gard murmelte nur eine unverständliche Antwort, und Cato Isaksen beendete das Gespräch mit dem Versprechen, wieder anzurufen, sobald er mehr wisse.

Roger Høibakk schellte in der Wohnung gegenüber. Ein Kollege von der Ordnungsabteilung, ein dünner, blonder Mann von Ende Zwanzig, begleitete ihn. Der sechsjährige Sohn der Nachbarn hatte die Leiche durch den Briefschlitz entdeckt. Der Junge war zutiefst erschüttert von diesem Erlebnis und wollte eigentlich nicht darüber sprechen. Zusammen mit einer kleinen Freundin aus dem Nachbaraufgang hatte er geklingelt, um nach Tina und John zu fragen, den Kindern des Ermordeten. Der Junge versuchte, sich hinter dem Rücken seiner Mutter zu verstecken. Sein Vater war außer sich und forderte sofortige psychologische Beratung. Roger Høibakk meinte, das ließe sich sicher arrangieren, betonte aber, wie wichtig es sei, als erstes den gesamten Ablauf der Ereignisse zu notieren: den Zeitpunkt, zu dem der Junge geklingelt hatte, ob er auch an anderen Tagen durch den Briefschlitz geschaut hatte und ob die Kinder oder die Erwachsenen in den letzten Tagen in oder vor der Nachbarwohnung irgend etwas gehört hatten.

Cato Isaksen klingelte in der Wohnung unter der des Toten. Er konnte durch das Milchglas der Haustür die Umrisse der Schaulustigen erkennen. Ihr gespanntes Gemurmel hob und senkte sich. Zwei Polizisten, einer uniformiert, suchten im Treppenhaus noch immer nach eventuellen Spuren.

Die alte Dame aus dem Erdgeschoß hatte jedoch nichts von Bedeutung gehört oder gesehen. Da war sie sich ganz sicher. Sie fragte jedoch, ob ihr Besucher eine Tasse Kaffee und ein Stück von dem Kuchen wolle, den ihre Tochter in Sandefjord gebacken hatte. Und warum er nicht in Uniform sei? Der Mord an ihrem Nachbarn schien sie nicht sonderlich zu treffen. Sie schien fast auf Besuch gewartet zu haben. Offenbar gefiel ihr die Situation. Isaksen lehnte den Kaffee höflich ab, überlegte sich dann aber alles anders. Ihm war vor Hunger schwindlig, er fühlte sich schlapp, und er ließ sich zwei Scheiben von dem trockenen Biskuitkuchen geben, den die alte Dame aus ihrer Küche holte. Er wußte nicht mehr so richtig, ob er an diesem Tag zu Mittag gegessen hatte, und wenn ja, was. Der Kuchen lag auf einem scheußlichen weißen Teller mit roten Rosen und goldenem Rand.

»Ja, ich esse ja nicht mehr viel.« Die Alte lächelte und trug mit zitternden dünnen Händen den Teller ins Wohnzimmer.

Isaksen fand es peinlich, daß er sich in der Diele Kuchen genommen hatte. Nun gab er sich alle Mühe, nicht auf den imitierten dunkelblauen Perserteppich zu krümeln. Der Kuchen schmeckte alt.

»Setzen Sie sich doch«, sagte die Frau und zeigte auf das grüne, verschossene Sofa, dann ging sie in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. »Nein, hier in der Gegend passiert nicht viel.« Sie lachte draußen leise vor sich hin. »Aber natürlich kann ich Ihnen das ein oder andere erzählen«, fügte sie hinzu und schepperte mit einer Schublade. »Und es ist natürlich entsetzlich, daß der junge Mann umgebracht worden ist.«

Cato Isaksen versuchte, ihren Tonfall zu deuten, sie hörte sich gleichgültig an. »Haben Sie in den letzten Tagen von oben irgend etwas Besonderes gehört?« rief er und rutschte an die Sofakante vor.

»Nein«, antwortete die Frau sofort, und er überlegt sich, daß die alte Dame über ein ausgezeichnetes Gehör verfügen mußte.

Als sie den Tisch mit großgeblümten grünen und braunen Tassen deckte, konnte er die blaulila Adern, die wie dünne Bänder unter der Haut ihrer Hände lagen, einfach nicht übersehen. Die Frau hatte Catos Blick offenbar bemerkt, denn sie sagte ganz schnell, sie sei zu geduldig gewesen, und die Zeit habe sich deshalb an ihrem Körper vorbeigeschlichen. »Sie verstehen doch sicher, wie ich das meine?«

Und dem Polizisten ging die entsetzliche Tatsache auf, daß auch diese Frau einmal jung und attraktiv gewesen war. Vor lauter Ekel hörte er einen Moment lang auf zu kauen.

»Das ist schon seltsam mit diesem Leben, wissen Sie«, die Frau plapperte mit ihrer dunklen Stimme weiter. »Es gibt einfach keine Garantien. Vermutlich sollte ich für meine zweiundachtzig Jahre dankbar sein, das sagt jedenfalls meine Tochter. Ich habe nur die eine. Sie ist vor einem Monat fünfzig geworden. Ich wollte ihr schon längst mein Silberbesteck vermachen, aber ich kann meinen Schwiegersohn nicht leiden. Kennen Sie sich in Sandefjord aus?«

Cato Isaksen nickte rasch. Er fragte sich, wann er mit seinem informellen Verhör anfangen sollte. »Die Schwägerin meiner Exfrau wohnt in Sandefjord«, sagte er kurz und fügte hinzu, ehe die alte Dame die Gesprächsleitung wieder an sich reißen konnte: »Wie gut kennen Sie die Familie in der Wohnung über Ihrer?«

»Naja, kennen ist zuviel gesagt. Die Kinder sind sehr lieb. Sie sind übrigens Zwillinge. Um die fünf Jahre alt. Die Frau ist Engländerin. Oder vielleicht auch Amerikanerin. Es gibt doch in beiden Ländern ein Boston. Eigentlich klatsche ich ja gar nicht gern. Man muß sich um den eigenen Kram kümmern.« Die alten Äuglein glitzerten, als sie aufstand, um die Kaffeekanne zu holen.

Der Kaffee war dünn wie Tee und schmeckte nach Hefe. Cato Isaksen nahm sich noch ein Stück trockenen Kuchen.

»Der Kuchen schmeckt Ihnen offenbar. Ja, das freut mich. Das werde ich meiner Tochter erzählen.«

»Sie kennen die Familie also so gut, daß Sie wissen, aus welcher Stadt die Frau stammt?«

Die alte Dame errötete kurz. »Sie dürfen mich nicht für neugierig halten«, sagte sie rasch. »Aber sie hat es mir einmal erzählt, daß sie aus Boston stammt, meine ich.«

»Ist das Haus so hellhörig, daß Sie hören können, ob oben jemand zu Hause ist?«

»Aber sicher«, antwortete die Frau und erhob sich. »Hier, ich gebe Ihnen eine Serviette.« Sie öffnete die oberste Schublade einer großen braunen Kommode und fragte mit dümmlichem Lachen, ob er eine hellgrüne oder eine blaßblaue vorziehe.

Isaksen gab keine Antwort, und die Frau reichte ihm eine blaßblaue. In diesem Moment ging die Türklingel.

»Meine Güte, noch mehr Gäste«, zwitscherte die Frau und lief hin. Die alte Dame hatte sehr dünne Beine.

Sie befahl Roger Høibakk, sich neben seinen Kollegen auf das Sofa zu setzen und holte auch für ihn eine Tasse und einen Teller. Cato zuckte resigniert mit den Schultern und schaute auf die Uhr.

Als die alte Dame wieder zurückkam, fragte er, ob ihr der Ernst der Lage wirklich bewußt sei – schließlich war ihr Nachbar ermordet worden!

Die Frau machte ein sehr ernstes Gesicht. »Sicher«, sagte sie leise. »Das ist entsetzlich.«

»Haben Sie in den letzten zwei bis vier Tagen oben etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen?«

»Nein.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Ich weiß ja meistens, was im Haus los ist, aber in den letzten Tagen war hier alles ganz normal.«

»Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Natürlich bin ich mir ganz sicherjunger Mann«, antwortete sie mit scharfer Stimme.

»Wir werden natürlich auf Sie zurückkommen, wenn wir den ungefähren Todeszeitpunkt wissen«, sagte Isaksen und gab Høibakk ein Zeichen, seinen Kaffee so schnell wie möglich zu trinken.

»Ja, aber ich habe noch etwas zu erzählen, was vielleicht von Interesse sein könnte.« Sie wollte ihren Besuch offensichtlich noch nicht loswerden. Cato Isaksen fragte sich unwillkürlich, ob sie einfach Gesellschaft brauchte, zog aber seinen kleinen Notizblock wieder aus der Tasche.

Unaufgefordert fing die Frau an zu erzählen. »Das hier ist ein angenehmes Haus. Nur nette Leute.«

Die beiden Fahnder tauschten einen Blick. »Sie glauben also nicht, daß es jemand aus dem Haus war?« fragte Roger Høibakk und trank den letzten Schluck lauwarmen Kaffee.

»Nie im Leben«, schnaubte die Frau. »Und außerdem könnte genausogut sie die Tote sein«, fügte sie hinzu.

»Was wollen Sie damit sagen?«

Die alte Dame war aufgestanden, kehrte den Männern den Rücken zu und machte sich an einigen Ziergegenständen auf der häßlichen braunen Kommode zu schaffen.

Die beiden Fahnder starrten abwartend den gebeugten Rücken der kleinen Frau an. »Die Zwillinge haben immer für mich Tulpen gepflückt.« Sie lachte vor sich hin, setzte sich wieder und streckte ihre dünne Hand nach ihrer Kaffeetasse aus. Sie nahm einen tiefen Schluck Kaffee. Ihre Wangen sahen hohl aus, als sie schluckte. »Ja, Sie wissen schon, die haben sie von den Blumenbeeten vor dem Haus geholt, und das ist ja verboten.« Sie verschränkte die Arme, wiegte sich hin und her und lachte. Isaksen wurde dabei an einen Esel erinnert, das lag an den großen gelben Zähnen und dem schrillen Lachen.

»Warum reden Sie in der Vergangenheit, gnädige Frau?« fragte Roger Høibakk. »Wie lange ist das her?« Er kann, wenn er will, dachte Cato. Der alten Dame gefiel es offenbar, mit gnädige Frau angeredet zu werden.

Sie wurde ernst. »Weil sie . . . jetzt blühen doch keine Tulpen mehr, oder doch?« Einen Moment lang sah es aus, als habe diese kleine Bagatelle die plappernde Frau total aus dem Gleichgewicht geworfen.

»Doch, gleich unter Ihrem Küchenfenster steht ein ganzes Regiment von gelben Tulpen. Das habe ich vorhin gesehen.« Roger Høibakk stellte lautlos seine leere Kaffeetasse auf die Untertasse.

»Ach?« Die alte Frau wirkte nervös. Als habe ihr Gespräch mit den beiden Polizisten plötzlich eine andere Wendung genommen.

»Dann habe ich mich sicher geirrt«, sagte sie nervös.

»Wissen Sie, wo Cheryl Therkelsen und die beiden Kinder sich im Moment aufhalten?«

»Nein«, sagte sie rasch, strich einige weiße Haarsträhnen zurück und versuchte, sie wieder in ihren Nackenknoten zu stopfen. Cato Isaksen registrierte, wie hektisch der Blick der alten Dame plötzlich war. Sie ballte auf ihrem Schoß die Fäuste und schaute auf die Uhr.

»Was wollten Sie damit sagen, daß ebensogut sie die Tote hätte sein können?« fragte der Kommissar und steckte den Block wieder in die Tasche.

»Das habe ich doch gar nicht gesagt!« Die Frau stand auf und strich sich über ihr hellblaues Kleid. Ihre Schultern waren krumm, und das betonte noch die runde, gebeugte Form ihres oberen Rückens, sie schien unter ihrem Kleid einen kleinen Rucksack zu tragen. Sie seufzte. »Ich bin jetzt müde«, sagte sie unsicher. »Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt oder nicht gesagt habe.«

Isaksen stand auf und sah Høibakk an. »Ich glaube, Sie müssen demnächst zu einem förmlichen Verhör auf die Wache kommen«, sagte er.

»Und dürfte ich wohl um Ihren Namen bitten?« fügte Høibakk hinzu.

»Bergliot Behrens«, antwortete die Frau, deren Gesicht jetzt sehr angespannt wirkte.

»Danke für Ihre Gastfreundschaft«, sagte Isaksen und ging auf den kleinen Flur hinaus.

»Dann ist das abgemacht. Wir teilen Ihnen bald einen Termin mit.« Die Frau schloß eilig hinter ihnen die Tür. Der leise Knall hallte von den Steinwänden wider.

»Komische Alte«, murmelte Roger Høibakk.

Er konnte erzählen, daß auch das Ehepaar von gegenüber keine Ahnung davon hatte, wo Cheryl Therkelsen stecken mochte. Sie hatten am Samstagvormittag die Kinder der Therkelsens gehütet, während die ihre Einkäufe erledigten. Die Eltern hatten sie gegen fünf Uhr wieder abgeholt. Seither hatten sie kein Mitglied der Familie gesehen. Sie hielten es für möglich, daß Cheryl Therkelsen und die Kinder für einige Tage verreist waren. Die Zeitungen waren auf der Fußmatte liegengeblieben. Sie hatten gedacht, auch der Mann sei verreist. Aber niemand hatte sie gebeten, die Post ins Haus zu holen. Die Nachbarn erzählten, daß Therkelsens nur selten Gäste hatten und auch fast nie ausgingen. »In gewisser Hinsicht sind sie uns ein bißchen einsam vorgekommen«, hatte die Mutter des kleinen Jungen erzählt. Der Mann hatte aber offenbar einen Bruder, der irgendwo in der Innenstadt wohnte. Die Frau stammte aus Boston und hatte, soweit die Nachbarin wußte, keine Verwandten in Norwegen.

Der Sechsjährige, der den Toten entdeckt hatte, war von allem dermaßen verängstigt, daß er nicht schlafen konnte.

»Er braucht doch so früh noch nicht zu schlafen?«

»Nein, aber er glaubt, daß er nie wieder schlafen kann. Außerdem hat er sich im Briefschlitz die Hand aufgeschrammt. Das Blut stammt vermutlich von ihm.«

Cato Isaksen bat Roger, festzustellen, ob Cheryl Therkelsen und die Kinder vielleicht ins Ausland gereist waren. Nach Hause, in die USA, das wirkte doch sehr wahrscheinlich. »Danach schickst du jemanden in die Läden und zum Taxenstand hier in der Gegend.«

»Hatten die denn kein Auto?«

»Keine Ahnung«, antwortete Isaksen mürrisch. »Das kannst du gleich auch noch klären.«

Als die Leiche in eine Decke gewickelt und aus dem Haus getragen werden sollte, kam unter dem Toten ein kleiner Zettel zum Vorschein, auf dem stand: »Denn noch ist es Winter.«

Ellen Grue hob den Zettel vorsichtig hoch. Sie trug noch immer ihre dünnen Gummihandschuhe.

»Denn noch ist es Winter«, murmelte sie und blickte zu Cato Isaksen hoch, der langsam den Kopf schüttelte.

Die kindliche Handschrift wies darauf hin, daß ein Kind den Zettel geschrieben hatte.

»Hat sicher keine Bedeutung«, sagte Isaksen. »Der Zettel ist wohl beim Handgemenge zwischen Mörder und Opfer von der Kommode gefallen, aber nehmt ihn sicherheitshalber trotzdem mit.«

»Natürlich«, sagte Ellen Grue und bedachte ihn mit einem scharfen Blick.

Ein Beamter kam angerannt und berichtete keuchend, daß die Boulevardpresse im Hof sei und daß er sie gebeten habe, dort noch zu warten.

»Da kriegt jemand tausend Kronen für den Tip«, Roger Høibakk grinste und fuhr sich durch die Haare, dann ging er nach unten und erzählte der Presse gerade genug, um sie zum Verschwinden zu bewegen.

Cato Isaksen warf einen letzten Blick ins Wohnzimmer. Im grünschwarzen Fernsehschirm sah er sich in der Türöffnung stehen, sah, wie sein Gesicht verschwamm, bis es einer hellen, unkenntlichen Maske ähnelte. Er sah eine gelbe runde Glühbirne, die wie ein leuchtendes Auge unter einem großen, geschmacklosen Lampenschirm hervorlugte.

Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi

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