Читать книгу Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 9
ОглавлениеSigrid Velde lief die Straße entlang und schob den Kinderwagen vor sich her. Sie war fünf Minuten zu spät. Aber noch ehe sie um die letzte Ecke bog, wußte sie intuitiv, daß Cato nicht auf sie wartete. Sie ballte nervös die eine Faust und versuchte, ihre Enttäuschung in den Griff zu bekommen, die nun wieder steinschwer in ihrem Bauch ruhte. Sie gewöhnte sich langsam an diese Steine. Daß diese Beziehung, in die sie wirklich so viel investiert hatte, so schnell in Treibsand geraten war! Mit Cato schien irgend etwas passiert zu sein. Sie konnte nicht genau sagen, was. Sie wußte auch nicht genau, wann diese Veränderung eingesetzt hatte. Das Problem war, daß sie nicht mehr sagen konnte, was Cato nun eigentlich für sie empfand. Das Kind machte ihn natürlich müde. Er arbeitete zuviel. Er hatte seinen beiden älteren Söhnen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Und das alles konnte sie ja verstehen.
Sicherheitshalber blickte sie sich noch einmal um. Sie konnte Gard und Vetle nicht von der Bahn abholen. Auch heute wieder nicht. Sie schaffte es einfach nicht, brachte es nicht über sich, immer wieder mit sich selber Kompromisse zu schließen. Auch sie war erschöpft. Sie hatte das Gefühl, dauernd hohe Berge besteigen zu müssen. Wie oft hatte sie die Jungen schon abgeholt, weil Cato es nicht rechtzeitig schaffte. Es waren nicht ihre Kinder. Wenn sie unbedingt herkommen mußten, dann sollte Bente sie doch bringen. Sigrid spürte, wie der Zorn alle Zellen in ihrem Körper füllte. Erschöpfung und Enttäuschung fraßen sich durch jeden Körperteil, bis sie von erstickender Traurigkeit erfüllt war. Hatte sie das denn verdient?
Und immer, wenn sie in dieser Stimmung war, mußte sie an ihre Eltern denken. Scharf und klar sah sie ihre Eltern vor sich, konnte sich aber nicht mehr an die Stimme ihrer Mutter erinnern. Ihre Mutter war schon seit mehr als achtzehn Jahren tot. Sigrid und ihr Vater waren zu einer eigenen kleinen Gemeinschaft geworden. Er war so lieb gewesen. Hatte immer alles für sie getan. Und jetzt war auch er nicht mehr da. Er war einige Monate vor Georgs Geburt gestorben. Es war so traurig. Sie kam sich noch immer nicht erwachsen vor, trotz ihrer zweiunddreißig Jahre. Sie wußte nicht, ob Einsamkeit und Sehnsucht nach ihren Eltern sie je verlassen würden. Und nun war sie selber Mutter. Sie sah ihr schlafendes Kind an. Ein warmes Gefühl durchströmte sie. Wie schade, daß ihr Vater sein einziges Enkelkind nicht mehr erlebt hatte. Und wie schade auch für das Kind.
Sie dachte an das alte Ferienhaus in Krokskogen, das ihr ganzes väterliches Erbe ausmachte. Der Vater hatte nie viel Geld gehabt, hatte so gut wie nichts besessen. Er hatte eine kleine Wohnung in Bislett gehabt. Sie war schon lange nicht mehr im Ferienhaus gewesen. Sie wußte, es würde ihr weh tun, es wiederzusehen. Cato war einmal mitgekommen. Ihm hatte es dort nicht gefallen. Das war vielleicht nicht so schwer zu verstehen. Es war eine alte, kleine Hütte mit abgenutzten Möbeln. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr renoviert worden. Sigrid Velde seufzte. Sie spürte den grauen Hüttengeruch, den Holzgeschmack im Mund. Den Geruch von Kaffee und Sommer auf ihrer Haut. Hohe, dunkle Tannen und trockenen Waldboden mit Farnblättern, Wurzeln und Tannennadeln.
Natürlich wußte sie, irgendwo in ihrem Hinterkopf, daß sie Cato gegenüber ungerecht war, daß er nicht immer frei über seine Zeit verfügen konnte. Eigentlich konnte er das nie. Das Erschreckendste aber war, daß sie, die doch selber Mutter war, Catos anderen beiden Söhnen keinerlei Wärme oder Begeisterung entgegenbringen konnte. Anfangs waren seine Söhne ihr nicht als Problem erschienen. Sie hatten einfach zu diesem Mann gehört, in den sie sich so nachdrücklich und zutiefst verliebt hatte. Jetzt hatte sie die beiden nur noch satt. Das war schon lange so. Seit der Geburt ihres eigenen Kindes war ihre Gleichgültigkeit immer weiter angewachsen. Und sie wußte, daß sie für diese Jungen nie so empfinden würde wie für Georg. Daß Cato sie liebte, vermutlich ebensosehr wie ihr gemeinsames Kind, machte ihr unbewußt auch Probleme. Die Zeit war keine Hilfe. Die Zeit hatte das Problem nur verschoben und wachsen lassen. Gard und Vetle räumten niemals hinter sich auf, sie gingen spät ins Bett, durchwühlten die Schränke. Außerdem fraßen sie wie die Scheunendrescher und brachten die Küche durcheinander. Es paßte Sigrid nicht, daß den beiden ein Platz in Catos Leben gehörte, vielleicht, weil sie wußte, daß die beiden den schrecklichen Wunsch hegten, ihren Vater zurückzubekommen. Die ganze Zeit lag in ihren Augen eine ängstliche Hoffnung. Jedes zweite Wochenende und jeden Mittwoch. Sigrid kam das vor wie eine ewige Strafe, wie lebenslänglich. Und Georg schlief noch immer nicht die Nächte durch.
Sie öffnete die schwere Tür und zog den Kinderwagen hinter sich her. Im Schwimmbad strömte ihr sofort der Chlorgeruch entgegen wie eine durchsichtige scharfe Decke.
Vom Telefon in der Ecke aus rief sie bei der Polizei an und erfuhr, daß Cato um vierzehn Uhr zu einem dringenden Fall aufgebrochen war und daß niemand wußte, wie lange er beschäftigt sein würde. Sigrid wußte, daß das einen Mord bedeutete. Und Mord bedeutete Abwesenheit, Abwesenheit und Abwesenheit. Sie spürte die graue Hoffnungslosigkeit in ihrem Hals, als sie sich über den Kinderwagen beugte und die Decke beiseite schlug. Georg schlief, und sie hob ihn vorsichtig hoch. Als er erwachte, fing er leise und klagend an zu weinen. Er lehnte seinen runden Kopf an ihren Hals und schlief wieder ein. Er war in dem Alter, in dem die Körperteile einfach nicht zusammenpassen. Sein Kopf war groß, die Arme kurz, die Füße noch immer winzig klein.
Sie nahm ihre Tasche mit Schwimmsachen und Handtüchern, bezahlte am Schalter und ging in den Damenumkleideraum.
Der geflieste Boden dort war glatt und kühl. Einen schrecklichen Moment lang stellte sie sich vor, wie diese Fliesen Georgs weichen Kopf zerschmettern würden, wenn sie ihn fallen ließe. Sie hatte einen widerlichen Eisengeschmack im Mund, als sie den Kleinen auf die Bank legte, um ihn auszuziehen. Zwei Teenies zogen sich ein Stück weiter hinten kichernd an.
Die Tür des Umkleideraums öffnete sich, und eine Frau kam herein. Sigrid nickte ihr vorsichtig zu, sie hatte diese Frau schon mehrere Male gesehen. Die Frau kam ihr auf vage Weise vertraut vor. Sigrid hatte sich das bisher noch nicht überlegt. Die Frau hatte nie ein Kind bei sich, sie schwamm einfach an der einen Längsseite hin und her, ohne auch nur einen Blick auf die jungen Mütter und den einen Vater zu werfen, der immer mit von der Partie war.
Plötzlich wußte Sigrid, was das Besondere an dieser Frau war. Sie erinnerte Sigrid an sich selber. Der dünne Körper, die flachen Brüste. Sie sahen sich nicht wirklich ähnlich, aber etwas an ihren Farben, ihrer Haltung, ihren Bewegungen war da. Wenn ich eine Schwester hätte, könnte die so aussehen, überlegte Sigrid.
Sie hob den inzwischen wieder quengelnden Georg hoch. Sie drückte das Kind an sich und spürte, daß es sie einrahmte. Sie war ein Bild, und der mollige weiche Babykörper war der Rahmen.