Читать книгу Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 23
ОглавлениеJohn und Tina kletterten neben ihre Mutter auf den Hocker: »Ich mag das Fleisch nicht«, sagte John und zeigte auf die Koteletts, die nebeneinander in der blauen feuerfesten Form lagen.
»Ich will das nicht«, fügte er hinzu und machte einen langen Hals, um zu sehen, was auf dem Flur vor sich ging. Seine Mutter gab keine Antwort, sie legte einfach eine kleine Kartoffel auf den Teller des Jungen.
Tina wandte sich an das kleine Mädchen, das neben ihr auf seinem Hocker saß. »Willst du meine Barbie halten?« fragte sie. Cheryl Therkelsen betrachtete die Frau gegenüber. Sie hatte etwas Hilfloses und Verlorenes an sich. Als sei sie auf dem falschen Planeten gelandet. Sie war vielleicht an die sechzig und am vorigen Abend mit ihrem Schweigen hier eingetroffen. Sie trug einen schreiend pfefferminzgrünen Pullover und einen langweiligen blauen Rock. Auch ohne nennenswerte Kenntnisse von Farbanalyse konnte Cheryl sofort sehen, daß Haut, Haare und Farben sich gegenseitig fast umbrachten. Das Gesicht der Frau war ziemlich blaß, ihre Blicke irrten umher. Sie schien nervös alle Einzelheiten der großen, gemütlichen Küche in sich aufzunehmen. Die Mutter des anderen kleinen Mädchens reichte der pfefferminzgrünen Frau die Kartoffeln.
»Mal sehen, ob wir einen Nachtisch finden«, sagte Sonja Petersen, nahm die Salatschüssel von der Anrichte und stellte sie mitten auf den Tisch, dann ließ sie sich neben der neuen Frau auf einen Hocker fallen.
Sonja Petersens Auftreten war von autoritär beruhigender Wirkung. Sie wußte, wie sie zu sprechen, flüstern, trösten und lachen hatte. Sie wußte wie, warum und wann.
Hugo Wift, der dünne schlaksige Zivi im gelben Pullover saß auf der anderen Seite der Frau in Pfefferminzgrün. Er lächelte John quer über den Tisch hinweg zu. »Dein Dino war toll«, sagte er.
»Das heißt nicht Dino, das heißt Dinosaurier«, sagte der Junge.
Hugo Wift lächelte. »Vielleicht kannst du einen zeichnen, den wir einrahmen und hier an die Wand hängen können?«
»Auch, wenn ich nicht mehr hier bin?« fragte der Junge.
»Ja, für immer«, antwortete Hugo.
John wollte noch immer kein Fleisch, und Cheryl beschloß, ihm seinen Willen zu lassen. Was brachte es schon, sich deshalb zu streiten! Und auch ihr wurde schlecht beim Anblick des gebratenen Fleisches. Sie hatte noch den Geschmack des warmen Fleischklumpens im Mund, des Fleischklumpens, den sie Svend aus dem Arm gebissen hatte, den Geschmack des heißen Blutes, das ihr in kleinen Bächen in den Mund geflossen war, während er ihr die Haare an der linken Schläfe ausgerissen hatte. Auch der Schmerz war noch da. Vorsichtig strich sie sich mit den Fingerspitzen über die Wunde. Danach nahm sie sich ein Kotelett und legte es neben ihren Teller, während ein Eisengeschmack ihre trockene Mundhöhle füllte. Sie konnte den Gedanken daran, dieses Fleisch im Mund zu haben, nicht ertragen. Sie nahm einen Schluck Wasser. Wie hatte er noch geheißen, der kleine Vogel im Nachbarhaus, als sie noch klein war? Jordy. Jordy hatte er geheißen. Sie lächelte ganz leicht und fragte sich, warum ihr gerade jetzt Jordy eingefallen war. Er hatte zitronengelbe Federn gehabt, ganz hell oben, wo die Brust in den Kopf überging. Der Vogel hatte seltsam knurrend gesprochen, dieses Geräusch schien nicht aus seinem Schnabel zu kommen, sondern direkt aus seiner Kehle. »Wake up, wake up«, knurrte er sehr oft.
Während Cheryl für ihren Sohn Kartoffeln und Tomaten zerdrückte, fiel ihr auf, daß die Frau gegenüber sie anstarrte. Cheryl dachte daran, wie fremd sie sich am ersten Tag hier gefühlt hatte, und sie wußte, daß die andere sich darüber wunderte, daß sie hier ruhig saß und lächelte und sich mit alltäglichen Fragen wie Fleisch oder kein Fleisch befaßte. Mit Barbiepuppen und zerdrückten Tomaten.
»Leg jetzt deine Barbie weg«, sagte Cheryl und nahm ihrer Tochter freundlich die langgliedrige Puppe mit den spitzen Brüsten aus der Hand.
»Aber die muß doch auch essen!« rief Tina.
»Das kann sie nachher noch«, sagte Cheryl ruhig und legte die Puppe neben sich auf den Hocker.
Sonja Pettersen streckte die Hand nach der Schüssel mit den Koteletts aus. Ihre Haare hatten rötlichen Glanz, sie war sehr dünn und zeigte einen Hang zu Kunstgewerbe und Hausfleiß. Ihre braune Batikweste war von rostroten und dunkelgelben Streifen überzogen. Zwischen den Streifen bildete sich ein Muster aus schwarzen Kreisen, die in eine Art lila Kern übergingen. Cheryl war hingerissen von diesen winzigen lila Flecken, die die schwarzen Felder zum Leben erweckten. Beim Kauen spürte sie, wie eine unbekannte Stärke sie überkam. Sie merkte, wie geduldig sie mit den Kindern umging, daß sie nicht böse wurde, auch, wenn John kein Fleisch wollte, daß sie Tina nicht die Puppe aus der Hand riß, als sie die Barbie hochhob und ihren Kopf ins Essen tunkte.
Cheryl holte tief Atem und begegnete einen Moment lang Sonja Pettersens Blick, diesen starken Augen, an die sie sich nun seit neun Tagen anlehnte. Es hatte trotz allem gutgetan, hier zu sein. Sie konnte den Gedanken an die Zukunft nicht ertragen. Aber Sonja Pettersen hatte gesagt, sie müsse daran denken. Sonja Pettersen hatte es geschafft, ihr von ihrer eigenen Stärke etwas abzugeben. So kam es Cheryl jedenfalls vor. Sie lächelte die Frau mit den seltsamen Augen an, diesen Augen, in denen wie auf der Weste weit hinten kleine Flecken tanzten.
Sonja Pettersen hatte schon so manche gekenterte und zerstörte Frau wieder aufgerichtet. Durch ihre Stimme, durch ihre ruhige, realistische Einschätzung von allem. Durch ihre praktischen Lösungsvorschläge. Alles an ihr flößte Hoffnung ein. Aber Cheryl überlegte sich, daß neun Tage vielleicht ausreichten. Sicher brauchten andere jetzt ihren Platz.
»Ich möchte auch ein Bild zum Einrahmen zeichnen«, sagte Tina. »Das dann immer hier an der Wand hängen kann.«
»Auch, wenn wir wieder bei Papa sind«, fügte John hinzu. »Ich will jetzt nach Hause zu Papa.«
Cheryl versuchte, ihren Sohn anzulächeln, aber es kam nur eine erschöpfte Grimasse dabei heraus.
»Wo ist Papa eigentlich?« fragte Tina und nahm einen großen Schluck von ihrem roten Saft.
Cheryl schüttelte langsam den Kopf, ihr Mund zitterte unkontrolliert, und die Tränen füllten ihren Mund und vermischten sich mit dem Essen.
Sonja Pettersen sah sie an und sprang auf. Sie sagte den Kindern, sie sollten sich selber ihr Eis holen. Sie öffnete die untere Kühlschranktür. Alle drei, Tina noch immer mit Barbie in der Hand, stürzten los, fielen auf die Knie und starrten in die Kälte hinein. Hugo Wift lachte laut. »Danach könnt ihr euch ins Fernsehzimmer setzen«, sagte er lächelnd.
So tief saß also das Gefühl neuer Stärke. Die Tränen ließen die Gesichter der anderen Frauen verzerrt aussehen. Wie graue Wolken. Cheryl Therkelsen senkte den Kopf und starrte ihre Finger an. Sie erinnerten an Gitter. Ihr Körper wurde zum Schatten.
Sonja Pettersen legte Cheryl ihre warme Hand auf die Schulter und bat sie, mit ihr in das kleine Büro zu kommen. Dort sagte sie ihr, sie müsse anderswo Kraft finden, sie dürfe nicht zuviel von sich verlangen. »Du leidest unter einer Müdigkeit, die viele tausend Jahre alt ist«, sagte sie. »Die kann nicht innerhalb von neun Tagen wie ein schwarzer Drache verdampfen.«