Читать книгу Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 20
ОглавлениеDer Liebesakt mit Sigrid hat etwas Trauriges an sich: Sie ist ein hilfloses, mageres Vögelchen. Es gibt so vieles, was er nicht darf. Er darf zum Beispiel nicht an ihren Brüsten lecken oder lutschen. Dann schiebt sie ihre dünnen sommersprossigen Hände zwischen die Brustwarzen und seinen Mund. »Bitte, du weißt doch, ich kann das nicht vertragen, solange ich Georg noch stille.«
»Aber du stillst ihn doch gar nicht mehr?«
»Ab und zu doch«, sagt sie und wendet sich halb von ihm ab.
Er dreht sie vorsichtig wieder zurück, und sie lächelt ein wenig. Er hat festgestellt, daß sie ganz geruchlos ist, und das verwirrt Cato mehr und mehr. Wenn er sie küßt, zieht sie ihre Zunge zurück, und er muß bei diesem trokkenen Kuß danach suchen. Ihre Schultern und ihre spitzen Kniescheiben erinnern ihn daran, daß etwas fehlt. Früher war sie nicht so.
Danach schläft sie immer wortlos ein, und Cato liegt wach und starrt in die kühle Frühlingsluft. Er hört Geräusche durch den Fensterspalt sickern. Autos, die kommen und verschwinden, Schritte, die widerhallen, die am Beton Echos werfen. Das Schweigen der Nacht drückt sich die Wände des grauen Steinhauses hoch.
Nach einer Weile steht er auf und geht ins Wohnzimmer. Gedanken wirbeln durch seinen Kopf. Er findet das Buch der Fragen hinter einem Stapel von Illustrierten. Er setzt sich in den Sessel und schlägt aufs Geratewohl Seite 189 auf. Bei diesem Buch ist es immer dasselbe, egal, welche Seite er auch aufschlägt, der Text paßt immer. Paßt in die Löcher seiner Seele, in das seltsame verwirrte Gedankenmuster, das ihn immer wieder quält. Dinge werden miteinander verflochten. Tote Menschen, tote Liebe, neue Liebe. Die andere Liebe, die Liebe zu den Kindern. Wo waren früher alle diese kleinen dünnen Nerven- und Trauerfäden? Was will diese Melancholie ihm sagen? Was zum Teufel läuft hier mit ihm ab?
Er macht eine harte Zeit durch. Irgendwo hat er gelesen, daß solche harten Zeiten automatisch zu neuen Erkenntnissen und schließlich auch zu Ruhe und Selbstvertrauen führen. Cato seufzt. Er hoffte, daß das zutraf.
Ehe er anfing zu lesen, dachte er an Bente und die Jungen. Jetzt lugten sicher schon Tulpen und Krokusse aus der Erde.
Er wußte noch, daß die gelben Tulpen dicht bei der Wand wuchsen, die roten weiter vorn, und die Krokusse ganz am Rand. Er denkt an Bentes warme Oberschenkel und an ihren weichen, feuchten Schoß. Er denkt an Gards wehes, trockenes Schluchzen, als er den Jungen erzählen mußte, daß er ausziehen wollte. An Gards ungläubigen Blick, als er sagte, er habe eine andere kennengelernt. Er denkt an Vetle, der seit dem Auszug seines Vaters wieder zum Bettnässer geworden ist. Der Sohn hatte ihm seine Briefmarkensammlung geschenkt, damit sein Vater ihn nicht vergaß. Cato Isaksen schluckte und schluckte, um seine Tränen zu unterdrücken. Er hatte keine Zeit dafür, keinen Platz. Was würde passieren, wenn er seine Gefühle wirklich an sich heranließe? Würde das Chaos ihn dann nicht in ein alles verzehrendes Weinen stürzen lassen? Und was konnte das schon bringen? Er mußte sich Mühe geben, solche Gedanken zu verdrängen. Er und sonst niemand war an dem Elend schuld, unter dem alle litten, die ihm nahestanden. Das Chaos, das er verursacht hatte, war wie ein Krebsgeschwür, das immer nur noch wuchs. Und im innersten Herzen dieses Geschwürs saß er selber.
Er starrte eine Weile die Glühbirne in der beigen IKEA-Lampe an. Dann las er den Text auf Seite 189:
Zwei Worte wie zwei Brüste. Wenn der gelbe Stern am Himmel der Verdammten leuchtete, trugen sie den Himmel auf ihrer Brust. Den Himmel der Jugend mit seinen Wespenstacheln, und den Himmel mit Trauerflor um den Arm.
Er war siebzehn Jahre alt, ein Alter mit breitem Spielraum.
Und dann eines Nachts, unmittelbar vor der Dämmerung, und dann in noch einer Nacht und in weiteren Nächten, und an Tagen, die Nächte waren, das Rendezvous mit dem Tod, das Rendezvous mit Morgen-und Abenddämmerung des Todes, das Rendezvous mit ihm selber, mit niemandem.
Zwischen Tag und Nacht ist die härteste Etappe der Tag.
Nachts sind die Vorhänge vorgezogen.
Er wandert in den Vorhängen.
Er erhob sich langsam und steckte das Buch ganz leise wieder zwischen die Illustrierten. Er überlegte sich, daß er sich freuen würde, wenn Sigrid es aus Versehen wegwarf. Er ging leise zur Schlafzimmertür und öffnete sie. Im Lichtstreifen, der vom Wohnzimmer her über das Doppelbett fiel, sah er, daß Sigrid nach beiden Seiten die Arme ausgestreckt hatte, so, als sei sie ein Buch. Das Buch der Fragen war vielleicht eine Frau mit Sommersprossen auf den Händen. Cato Isaksen setzte sich auf die Bettkante und lauschte auf das leise Atmen des Kindes. Wie viele tausend, vielleicht Millionen Liter Luft hatte dieses kleine Kind im Laufe seines kurzen Lebens wohl schon in die Lunge eingesogen und wieder ausgestoßen? Wie viele Meter Wind würde das wohl insgesamt ergeben? Georg bewegte vorsichtig eine Hand, spreizte zitternd die Finger, dann kam die Hand wieder zur Ruhe. Sein Vater betrachtete das Kinderhändchen und mußte es einfach mit der anderen Hand vergleichen. Mit der anderen Hand, die von schwarzem, geronnenem Blut bedeckt gewesen war, die blauweiß und leblos und auf irgendeine Weise beschützend über dem länglichen, tiefen Messerstich gelegen hatte.
Eine Hand hat siebenundzwanzig Knochen. In einer kleinen Hand gibt es siebenundzwanzig kleine Knochen. Die Hand ist ein phantastisches Gerät. Aufgebaut aus Knochen und Muskeln, mit flexibler Haut überzogen. Die Hand kann halten, stoßen, schlagen, liebkosen, spielen und berühren.
Bald würde die Leiche in einen der Öfen im Krematorium geschoben und in Staub und ansonsten in nichts verwandelt werden. Aber erst mußte die Frau auftauchen. Der Fall mußte aufgeklärt werden. Wenn sich das nicht schnell genug machen ließe, dann würde der Tote auf altmodische Weise bestattet werden.
Cato Isaksen schloß die Augen, riß sie aber sofort wieder auf und ließ sich vom Licht hinter dem Fenster das Vorhangmuster zeigen. So lag er dann da und starrte den Vorhang an. Ließ den leise bebenden Stoff mit den länglichen Strichen und den wogenden Blättern immer tiefer in seine Augen sinken, um dann langsam hineinzuwandern.