Читать книгу Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 22
ОглавлениеAm Montagmorgen wachte die Stadt wieder auf. Sie füllte ihre große Lunge mit Auspuffgasen. Blies Menschen durch Straßen und Gassen, in Cafés hinein, in Supermärkte und U-Bahn-Eingänge.
Von oben gesehen sahen die Menschen aus wie Ameisen oder krabbelnde Insekten. Die Autos arbeiteten sich wie schnuppernde, suchende Tiere durch die Straßen. Fahrräder, Kinderwagen, Frauen, Hunde, alte, ängstliche Menschen. Alles und alle bewegten sich und brachten einen eigenen kleinen Seufzer mit ins Stadtbild.
Ein Müllwagen schepperte durch die Straße. Drei lachende Jugendliche gingen über den Bürgersteig. Eine rötliche, hungrige Katze schlich hinter einen alten Bretterzaun. Ein Kind warf einen Stein.
Der Frühling war eine fast abstrakte Jahreszeit. Nur anderes Licht. Frühling ohne Schatten, mit Pastellfarben, dünner Luft und farblosem Himmel.
Cato Isaksen und Roger Høibakk hielten im Parkverbot. In einigermaßen erträglicher Entfernung war einfach kein Parkplatz aufzutreiben. Vor einem Metzgerladen – auf einem blauen Schild darüber stand »Lasher« – stellten sie ihren Wagen halb auf dem Bürgersteig ab.
Die kleinen Steinhäuser in der Urtegate waren grau oder senfgelb. An mehreren Stellen war die Farbe abgeblättert. Unbeholfene Graffitimotive dekorierten hier und da die Mauern. Nicht wie bei der U-Bahn-Haltestelle Nationaltheatret oder an einem Lagerhaus in Skøyen, an dem Cato vor kurzem vorbeigefahren war, wo rote, gelbe und dunkelblaue aufgeblasene Buchstaben ein schönes Muster aus Wörtern und Farben gebildet hatten. Hier gab es nur schwarze, unregelmäßige Kritzeleien. Dünn und erbärmlich. So zahm und traurig wie die Mauern, die mit ihnen beschrieben waren.
Roger Høibakk steckte sich einen Kaugummi in den Mund und blickte sich mißmutig um. »Der reinste Slum«, murmelte er. »Da hinten liegt übrigens das Menschenrechtshaus, dieses graue da. Ich war mal da, weil es Ärger gab.«
Eine ältere Frau und zwei Schulmädchen, alle drei in bunten Pluderhosen und der traditionellen Tunika, wichen scheu aus, um die beiden Fahnder vorbeizulassen. Cato Isaksen wandte beklommen seinen Blick ab. Der herbe Geruch von Gewürzen und Schweiß, den er erwartet hatte, blieb aus.
Der Eingang zum Laden lag an einer Ecke. Draußen standen stapelweise Kästen mit Gemüse, zwei weiße Eimer mit in Plastikfolie gewickelten Tulpen und ein Eimer mit Seidenblumen. Vor der Mauer waren unterschiedliche Arten von Keramikgefäßen aufgestellt. Daneben gab es einen Zeitungsständer mit VGund Dagbladet und eine Art Stange, an der bunt eingepackte Süßigkeiten hingen. Ein kleiner Junge auf einem Dreirad starrte die bunten Herrlichkeiten voller Bewunderung an.
Im Laden war es dunkel, da Regale die Fenster verdeckten. Es roch nach einer herben Mischung aus altem Käse und Gewürzen. Auf einem hellblauen Resopaltresen stand eine Kasse, deren beste Zeiten vorbei waren. Stimmen verrieten, daß sich weiter hinten im Laden Menschen aufhielten.
Die beiden Fahnder warteten und sahen sich derweil um. Der kleine Laden war mit Waren vollgestopft. Mehl und Zucker waren nebeneinander im nächstgelegenen Regal aufgehäuft. Es herrschte eine seltsam chaotische Ordnung. Als gäbe es in den Stapeln von Keksen, Kindernahrung, Gewürzen, Limonade, Brot, Gemüse, Obst und Schachteln und Gläsern mit unbekannter Schrift und fremden Etiketten ein unsichtbares System.
Cato Isaksen ging zum Fleischtresen hinüber. Fast im selben Moment tauchte rechts hinter ihm ein bleicher, dicklicher Mann auf. Er schien mitten aus einem Regal voller Waren hervorgesegelt zu kommen. Seine weiße Haut betonte die Schweißperlen in seinem schwarzen Haaransatz. Das ist sicher der Bruder des Verstorbenen, Hussain Khan, dachte Cato Isaksen. Der Mann trug ein weißes, nicht ganz sauberes Hemd und eine schwarze Hose. Seine Augen verrieten ein gewisses Unbehagen, als ihm aufging, daß diese beiden Männer keine normalen Kunden waren. Er redete schon drauflos, noch ehe die beiden Ermittler sich vorgestellt hatten.
»Ich habe es weggebracht, alles weggeworfen, sehen Sie nur. Sehen Sie. Was haben wir hier? Schweinefilet von Gilde, Grillwürste, gehen bis zum 30. April. Rindersteaks, auch von Gilde. Sie werden hier nichts finden«, sagte er und schüttelte so heftig den Kopf, daß sein Doppelkinn leise zitterte. »Ich sage Ihnen, nichts. Alles ganz legal importiert.«
Der dickliche Pakistani sprach gutes Norwegisch, wenn auch mit fremdem Akzent.
Cato Isaksen zog seinen Dienstausweis aus der Tasche, streckte die Hand aus und stellte sich vor. Zwei Kundinnen, Frauen von Mitte Dreißig, blieben stehen und beobachteten den kleinen Auftritt voller Neugier.
»Das ist Polizeiadjutant Roger Høibakk«, sagte er dann und stellte seinen Kollegen vor. »Ich nehme an, Sie sind Hussain Khan?«
Der Mann nickte verlegen.
»Wir würden gern wegen des Mordes an Ihrem Bruder Bashir Khan mit Ihnen sprechen.« Cato Isaksen sprach so leise, wie er nur konnte. Die beiden Frauen nahmen sich einen Einkaufskorb und machten sich widerwillig an ihre Einkäufe.
Hussain Khan schob die eine Hand in die Tasche, zog ein nicht ganz sauberes Taschentuch hervor und wischte sich damit die Stirn.
»Ich habe schon so oft mit der Polizei gesprochen«, sagte er. »Ich bin auch auf der Wache gewesen.«
»Das wissen wir«, sagte Cato Isaksen und musterte Khan ruhig.
»Ja«, sagte der Pakistani. »Kommen Sie mit. Wir können hier hinten weiter reden.« Er verschwand zwischen den Regalen und gab den beiden ein Zeichen, ihm zu folgen. Er rief kurz und wütend etwas in seiner eigenen Sprache. Eine kleine dünne Frau von Mitte Vierzig, die ihre schwarzen Haare hinten zu einem strengen Knoten hochgesteckt hatte, kam aus einem kleinen Arbeitszimmer. Sie warf einen ängstlichen Blick auf die Ermittler, ehe sie lautlos zwischen den Regalen verschwand und sich dabei die feuchten Hände an den Hüften abwischte.
Sie bückte sich und raschelte mit einigen großen Zwiebackpackungen.
Im kleinen hellgrünen Hinterzimmer saß ein Junge und rechnete mit einem Taschenrechner. Der Junge hatte kräftige Augenbrauen und machte ein ernstes Gesicht. Er schien Zuverlässigkeit auszustrahlen.
»Das ist Kim«, sagte Hussain Khan und gab dem Jungen ein Zeichen aufzustehen. »Bashirs Sohn«, fügte er traurig hinzu.
Kim Khan nickte kurz, stand auf und schob seinen Stuhl zu Cato Isaksen hinüber. Roger Høibakk stand in der Türöffnung, während Hussain Khan von dem unordentlichen Schreibtisch einen Stapel von Rechnungen entfernte. Er bewegte sich reichlich hektisch. Sein Hals hatte sich mit roten Flecken überzogen. Kim Khan ging leise in den Laden.
»Wir haben die Ermittlungen im Mordfall an Ihrem Bruder übernommen«, sagte Cato Isaksen und warf einen Blick auf die Pinnwand, an der zwischen Rechnungen, Reklame und in Urdu beschriebenen Zetteln mehrere kleine Farbfotos hingen.
Hussain Khan fingerte an einem zerbrochenen Kugelschreiber herum. Große Rohre, die von der Decke bis zum Boden führten, rauschten. Ein winziges schmutziges Fenster warf graues Licht über die eine Längswand.
»Was haben Sie herausgefunden?« fragte Hussain Khan und ließ nervös den Kugelschreiber auf die unordentliche Tischplatte fallen.
»Wir würden gern noch einmal über einige Dinge mit Ihnen sprechen, wenn Ihnen das nichts ausmacht. Unsere Ermittlungen haben bisher nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht.«
»Ach.« Hussain Khan holte tief Luft und setzte sich auf die äußerste Schreibtischkante.
»Möglicherweise sind einige neue Aspekte aufgetaucht. Der Fall hat eine Wendung genommen, könnten wir sagen.«
»Ach. Wieso denn?«
»Darauf werde ich noch zurückkommen«, sagte Cato Isaksen.
»Wie läuft der Laden?« fragte Roger Høibakk von der Türöffnung her.
»Gut«, antwortete Hussain Khan schnell.
»Vorhin haben Sie geglaubt, wir wollten Ihren Fleischtresen inspizieren?«
»Nein, nein.« Der Mann bewegte die Arme, als wolle er alles weit von sich weisen.
»Wie lange sind Sie schon in Norwegen?«
»Fünfzehn Jahre«, kam es wie aus der Pistole geschossen.
»Und Ihr Bruder, wie lange hat der hier gelebt?«
»Schon länger, siebzehn Jahre. Er war der erste, dann bin ich mit seiner Familie hinterhergekommen. Mit seiner ältesten Tochter und seiner Frau, die damals mit Kim schwanger war. Das ist der da draußen an der Kasse.«
Cato Isaksen nickte, und Roger Høibakk machte sich auf einem kleinen Block Notizen. Er hätte gern darauf hingewiesen, daß es nicht »schon länger« hieß sondern »noch länger«, und nicht »schanger«, sondern »schwanger«.
»Können Sie mir erzählen, was am 2. Januar passiert ist?«
Hussain Khan legte sich einen Moment lang die Hand an die Stirn, wie eine Geste der Erschöpfung, dann ließ er sie wieder sinken, beugte sich vor und stützte die Handflächen auf die Oberschenkel. »Es war ein grauenhafter Tag. Es war Weihnachten, oder fast Weihnachten. Wir feiern ja nicht Weihnachten, aber die Kinder waren zu Hause, hatten Ferien. Es war übrigens fast Silvester. Der Tag danach, meine ich, oder vielleicht der Tag nach dem Tag danach, ich weiß es nicht mehr genau. Auf jeden Fall war es ein Sonntag.«
Cato Isaksen betrachtete den Mann, während der das alles sagte. Erwirkte außergewöhnlich nervös.
»Wir hatten Besuch von Ahmed, einem guten Freund«, fuhr Hussain Khan fort. »Auch ein Freund meines Bruders«, fügte er hinzu. »Sonya war da, meine Schwägerin, meine ich, und die Kinder.«
»Ach. Und ist das Ihre Schwägerin, die im Laden arbeitet?« Roger Høibakk nickte zu der dünnen Frau im roten Sari hinüber, die noch immer die Zwiebackpakkungen mit Preisschildchen versah.
»Nein, nein. Das ist meine Frau. Sonya ist nicht gesund. Fast nur krank, wissen Sie. Wirklich schlimm.«
Cato Isaksen nickte und wartete auf die Fortsetzung. Roger Høibakk gab Hussain ein Zeichen weiterzureden.
»Ahmed und ich haben ihn gefunden, wir wollten Bashir zum Fest dazuholen. Die Tür stand offen. Nicht weit, nur einen Spalt. Und dann haben wir ihn in der Wohnung gefunden. Auf dem Boden, und überall war Blut. Wir haben die Polizei angerufen, und die ist ziemlich schnell gekommen.«
Hussain Khan atmete beim Sprechen schwer. Es war offensichtlich, daß diese Erinnerung ihm noch immer arg zusetzte. Er richtete sich auf, faltete die Hände auf seinen Knien. »Vielleicht war es dieser Per Karlsen«, fügte er nach einer Weile hinzu.
»Der hat meinen Bruder gehaßt, seine ganze Familie, seine Kinder.« Hussain Khan war aufgesprungen. »Bei dem müssen Sie mal genauer nachsehen. Die Polizei muß diesen Fall aufklären. Mein Bruder ist jetzt in Pakistan, begraben. Unsere Eltern sind sehr trauerlich. Wir waren nur zwei Söhne, und jetzt bin ich allein.« Hussain Khan zeigte dramatisch auf sich selber.
»Warum war Bashir nicht von Anfang an bei diesem Fest dabei?«
Hussain Khan ignorierte diese Frage und klagte weiter: »Meine Eltern sind krank von allem, was passiert ist. Norwegen ist kein gutes Land für uns. Wir werden gehaßt, und dabei tun wir doch nichts Böses, wir leben hier nur. Wir helfen den Norwegern, verkaufen ihnen Lebensmittel. Viele mögen uns auch, viele sind nett, aber viele hassen.«
»Warum war Bashir nicht von Anfang an bei diesem Fest dabei?« fragte Cato Isaksen noch einmal.
»Das war kein Fest, nicht so.« Hussain Khan zuckte mit den Schultern. »Wir waren einfach nur zusammen. Es sind nicht immer alle gleichzeitig da. Wenn wir zusammen sind, dann ist das für uns ein Fest.«
»Aber er wollte später dazukommen, war das nicht so?«
»Er wollte kommen. Als er nicht kam, wollten wir ihn holen. Und den Rest wissen Sie.«
Roger Høibakk ging in den Laden.
»Dieser Per Karlsen, der wohnt unter Ihrem Bruder, nicht wahr?« fragte Cato Isaksen.
»Ja, genau darunter, er war es bestimmt. Er hat uns alle gehaßt. Die Kinder haben Angst, wenn sie an seiner Tür vorbei müssen. Er macht manchmal auf und spuckt hinter den Kindern her. Verstehen Sie? Die Kinder verstehen das nicht!« Er zuckte resigniert mit den Schultern. »Die Kinder tun ihm doch nichts.«
Roger Høibakk stand wieder in der Türöffnung.
»Unter dem Leichnam Ihres Bruders hat ein Zettel gelegen?«
Hussain Khan war einen Moment lang unsicher. Seine Augen irrten von einem Ermittler zum anderen. »Ich weiß nichts von einem Zettel«, sagte er langsam.
»Unter dem Leichnam Ihres Bruders lag ein Zettel, und darauf stand: Schlaf nur ruhig, mein Blümelein«, sagte Roger Høibakk.
Hussain Khan sah verwirrt aus.
»Sagt Ihnen das etwas?« fragte Cato Isaksen.
»Nein, vielleicht war das ein Zettel aus der Schule, ich weiß es nicht. Ich weiß nichts von diesem Zettel.« Hussain Khan warf einen genervten Blick in den Laden, als seine Frau ihn rief, sie brauchte Hilfe beim Bedienen der Kundschaft. »Sie spricht kein Norwegisch«, sagte er zur Entschuldigung, dann verließ er das Hinterzimmer.
Eines der kleinen Fotos an der Pinnwand zeigte eine junge schöne Frau in gelber pakistanischer Tracht. Das Bild war auf einem Balkon aufgenommen worden. Im Hintergrund war ein Dutzend Fenster eines grauen Blocks zu sehen.
»Meine Nichte«, sagte Hussain Khan, der wieder im Zimmer stand. »Fatima, Kims ältere Schwester. Sie ist der Trost ihrer Großeltern. Sie wohnt bei ihnen in Lahore.« Eifrig fügte er hinzu: »Es ging ihr hier nicht gut. Sie wissen ja, norwegische Jungen sind nicht gut für unsere Mädchen.«
»Wird sie da unten bleiben?«
»Ja«, erklärte Hussain Khan energisch. »Sie wird heiraten.«
»Wie alt ist sie?«
»Achtzehn.«
»Wenn dieser Zettel aus der Schule stammt, wie Sie meinen, wer kann ihn dann geschrieben haben?«
Hussain Khan zuckte mit den Schultern und schob sein Gesicht vor. »Sara, Leila, was weiß ich. Eine von ihnen.«
»Die Töchter Ihres Bruders?«
»Ja.«
»Nach dem Tod Ihres Bruders haben Sie den Laden so mehr oder weniger übernommen, stimmt das?«
»Nein«, Hussain Khan steckte abwehrend die Arme aus. »Ich arbeite nicht hier, ich komme nur her, um mit Kim zu sprechen, und meine Frau hilft gratis aus. Ich arbeite nicht hier.«
»Sie bekommen Sozialhilfe, nicht wahr, sind schon lange arbeitslos?« Roger Høibakk steckte den Block in die Tasche.
»Es gibt keine Arbeit, und im Laden werden auch nicht viele gebraucht. Es ist ein kleiner Laden. Sie lesen ja Zeitung. Ausländer finden in Oslo keine Arbeit. Norwegen ist für uns ein hartes Land, wissen Sie.«
»Ihr Neffe leitet den Laden also allein?«
»Der Sohn meines Bruders ist sehr tüchtig. Er macht seine Sache im Laden gut und versorgt seine Mutter und seine Schwestern. Er ist wirklich ein guter Junge. Ich kann vielleicht bei der U-Bahn Arbeit bekommen. Ein Freund arbeitet da, er sagt, sie brauchen noch Leute zum Putzen. Vielleicht bekomme ich da Arbeit.«
Cato Isaksen erhob sich und bedankte sich bei dem Pakistani für die Auskünfte. »Das wär’s für heute«, sagte er. »Vielleicht müssen wir noch auf Sie zurückkommen.«
Eine Rentnerin, eine alte Dame mit senfgelbem Mantel und einer abgenutzten Handtasche, die von ihrem Handgelenk baumelte, sprach sie an, als sie den Laden gerade verlassen wollten. »Was ist denn jetzt los, Hussain?« fragte sie und starrte die beiden Ermittler böse an.
»Nichts«, sagte Hussain Khan schnell und schob sie freundlich vor sich her.
Cato Isaksen dachte daran, in wie großem Umfang im kleinen Oslo doch mit Sozialleistungen geschwindelt wurde. Und dieses Problem wurde immer noch größer, egal, was die Politiker sagten.
Kim Khan schaute von den Waren auf, deren Preise er gerade in den Kassenapparat eintippte. Als die Kundin ihre Waren in eine Plastiktüte gesteckt hatte, bat Cato Isaksen den Jungen, sich am nächsten Tag um elf auf der Wache einzufinden.
»Das ist ja gleich um die Ecke«, sagte er und lächelte dem Jungen kurz zu. Der Junge erwiderte das Lächeln nicht.
»Ich weiß, wo das ist. Ich war schon mal da«, sagte Kim Khan düster. Sein Gesicht war müde und ernst. Er sah älter aus als seine siebzehn Jahre. »Haben Sie den Mörder, oder was?« fragte er und wandte sich den Einkäufen der alten Dame mit dem gelben Mantel zu. Sie hatte ihre wenigen Waren auf den Tresen gelegt.
»Eins kann ich euch sagen«, schaltete die alte Dame sich ein, »schon seit Monaten gibt es hier kein verbotenes Fleisch mehr! Ich weiß das genau, ich kaufe hier ja schließlich jeden Tag ein! Fragt Hussain. Komme ich nicht jeden Tag, Hussain?« Sie drehte sich um und rief quer durch das Lokal. Hinten half Hussain gerade einer jungen Mutter, ein Paket Windeln aus einem der oberen Regalfächer zu nehmen.
»Morgen vormittag um elf also.« Cato Isaksen lächelte den Jungen erneut an, und der nickte widerwillig und tippte eine Packung trockene Kekse und ein kleines Graubrot ein.
Auf dem Weg nach draußen nahm Cato Isaksen plötzlich den Geruch eines ganz besonderen Gewürzes wahr. Sofort assoziierte er damit ein Bild. Bente hatte einmal ein phantastisches Essen aus Zutaten gekocht, die sie von einer pakistanischen Bekannten im Wohnblock auf der anderen Seite der Schnellstraße bekommen hatte. Er erkannte den Duft dieses Gewürzes. Konnte sich daran erinnern, wie diese Mahlzeit ausgesehen hatte, an die Wärme der Paneelöfen und die ruhigen Vorhänge. Es war Winter gewesen, es war einige Jahre her, drei oder vielleicht vier. Eine ganze Ewigkeit. Er ertappte sich bei dem Gedanken ans »damals«, wie ein alter Mann, der zurückdachte. Was er sah, war das eigentliche Leben.
Er ging die kleine Treppe hinunter. Der kleine Junge auf dem Dreirad bewunderte noch immer die bunten Bonbonstreifen. Im Geruch des schmutzigen Frühlings hing der beunruhigende Dunst des Schmerzes.