Читать книгу Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 8

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Daß er in Mordfällen ermitteln mußte, ließ ihn nicht unbeeinflußt, das ging sicher allen so. Er dachte allerdings erst seit kurzem darüber nach. Seine Arbeit erinnerte ihn immer wieder daran, wie einzigartig es ist, ein Mensch zu sein. Aber auch unmöglich und tragisch. Das Unmögliche am Menschsein ist, daß der Tod das einzig mögliche Ende darstellt. Das ist für alle Menschen so. Aber die meisten anderen können ihn vor sich herschieben, ihn bei ihren Alltagsbeschäftigungen verdrängen. Er aber trug ihn immer auf den Schultern.

Natürlich war die ganze Maschinerie im Trudvangvei in Gang. Im Hinterhof wimmelte es nur so von Uniformierten aus der Ordnungsabteilung. Irgendwer redete mit der Schar von Neugierigen, die hier zusammengeströmt waren. Einer hatte den weißen Behälter in der Hand und zog weißrotes Absperrband von Geländer zu Geländer, um der Spurensicherung Unbefugte vom Hals zu halten. Dieses Band erinnerte Cato Isaksen immer an die Zuckerstangen aus seiner Kindheit. Sofort mußte er an den Tierpark draußen am Mossevei denken. An den Geschmack der rotweißgestreiften Dauerlutscher.

Im Treppenhaus wurden die Stufen abgesaugt und die anderen Spuren gesichert. Im Erdgeschoß lugte neugierig eine alte Dame durch einen Türspalt.

Auch in der Wohnung im ersten Stock wimmelte es nur so von Leuten. Als Cato Isaksen und Roger Høibakk am Tatort eintrafen, erfuhren sie, daß der Tote vermutlich Svend Ivar Therkelsen hieß und neununddreißig Jahre alt war. Der Mann war natürlich noch nicht identifiziert worden, aber das Foto in seinem Führerschein legte die Annahme nahe, daß Therkelsen gleich hinter der Tür zu dieser Wohnung im ersten Stock auf dem Rücken lag.

Cato Isaksen stieg über die Leiche hinweg. Noch immer, nach all den Jahren, durchfuhr ihn beim Anblick des Todes ein kalter Schauer. Und bei ihm handelte es sich zumeist nicht um irgendeinen, sondern um einen brutalen und oft unbegreiflichen Tod. Noch immer tauchten ausdruckslose Totenmasken aus Jahre zurückliegenden Fällen vor seinem inneren Auge auf. In Verwesung übergegangene Leichname, schreiende, verzerrte Gesichtsausdrücke. Etwas prägte sich ihm immer ein, an etwas konnte er sich später immer noch erinnern. Meistens handelte es sich dabei um Bagatellen. Er blieb stehen und betrachtete die Leiche. Welche Erinnerung würde ihm wohl diesmal bleiben? Vielleicht der eine Arm, der sich mit erstarrten, leeren, ringlosen Fingern seitwärts ausstreckte? Oder die Haut der Fingerspitzen, die sich blau verfärbte? Oder der geruchlose Mantel des Nichts, der sich mattglänzend über das Gesicht des Mannes gezogen hatte? Auch das war eine Gesellschaft. Die Todesgesellschaft der Stille. Ein Rahmen, ein zufälliger Raum endlosen Endes. Ein hoffnungsloses Gefühl, an einem Fragment der Wirklichkeit des Globus teilzunehmen, das überhaupt nicht existieren dürfte.

Der andere Arm lag auf dem Bauch des Mannes und war von dunklem, geronnenem Blut bedeckt. Der Tote schien die Hand auf die Stichwunde zu drücken, um die Blutung aufzuhalten, oder vielleicht, um festzustellen, ob es denn wirklich stimmte, ob er wirklich in Bauch und Brust von mehreren tiefen Stichen getroffen worden war. Solche Morde geschahen zumeist sehr schnell. Der Mund stand offen. Der Kopf war halb nach hinten gedreht, als wolle der Tote die abgebeizte Kommode anschauen, das Telefon, das stumm dort oben thronte. Unter dem Telefon lugte eine rote Broschüre hervor, eine Werbung für ein Fitneß-Center beim Ullevål-Stadion. Fit in den Sommer, stand in schwarzer Druckschrift darauf. Das Absurde dieses Satzes, in Anbetracht der Situation, richtete die Aufmerksamkeit des Polizisten noch zusätzlich auf diese Broschüre. Er zog sie unter dem Telefon hervor. Jemand hatte oben in die linke Ecke eine Art Einkaufsliste geschrieben. Brathähnchen, Reis, Salat, Bier, Gummibärchen, Brot, Milch stand dort ordentlich untereinander.

»Nichts anfassen!« Ellen Grue, eine Kollegin von der Spurensicherung, starrte ihn von der Wohnzimmertür her gereizt an.

Cato Isaksen hob abwehrend beide Hände und trat einen Schritt zurück. Er hockte sich neben die Leiche. Durch den halbgeöffneten Mund konnte er die Zähne im Oberkiefer und den dunklen Gaumen erkennen. Die Kehle war durchgeschnitten. Die gerade, bräunliche Spur des Messers sah aus wie ein dickes braunes Seil. Und darunter war das Blut, das als dünne braune Schicht auf der Haut erstarrt war. Inzwischen blätterte es wieder ab. Das weiße Hemd war vom Kragen bis zur Brustmitte rotbraun. Die Haut des Toten war von wächsernem Gelb, als sei dieser Mensch eigentlich immer schon eine Puppe gewesen.

»Der ist sicher schon zwei oder drei Tage tot. – Mindestens«, fügte Ellen Grue hinzu. »Aber wir müssen auf den Obduktionsbericht warten.« Sie war eine kleine, energische Frau von Ende Dreißig, dunkelhaarig, mit starken weißen Zähnen. Cato Isaksen hielt sie für unnahbar. Sie strahlte eine abweisende Härte aus, die für ihn nicht meßbar war. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Schärfe. Sie benutzte nicht viele überflüssige Worte, und sie ließ sich nichts anmerken, wenn sie ab und zu selbst dem härtestgesottenen Fahnder ein Gefühl der Unterlegenheit einflößte.

»Weißt du irgendwas über den Toten?« fragte Roger Høibakk. Ein fast unmerklicher süßlicher Gestank, kleine Partikel des Todes, hing in der Luft. Blutlachen waren zu kleinen, bräunlichen Seen erstarrt. Die Küchentür stand halboffen. Auf dem Boden lagen Essensreste und Abfälle herum. Ein seltsam abstraktes, fast schönes Blutmuster umrahmte die Risse im weißen Hemd. Durch diese Risse konnte Cato Isaksen sehen, daß die Stichwunden von geschwollenem, schierem Fleisch umgeben waren. Er überlegte sich unwillkürlich, wie dunkel es in einem Körper sein muß. Herz und Innereien liegen geborgen irgendwo da in der Dunkelheit, unter der Haut, bis eine Messerklinge plötzlich eine Öffnung hineinschneidet und Licht hereinläßt.

Er erhob sich und folgte Roger in das helle, aprikosenfarbene Zimmer. Ellen Grue bat sie gereizt, sich in die Sessel zu setzen und nicht herumzutrampeln. »Wir sind noch nicht fertig«, sagte sie und nickte zu einem Kollegen von der Spurensicherung hinüber, der mit einem kleinen Staubsauger den Teppich abfuhr. »Wir werden hier noch tagelang zu tun haben.«

Die Vorhänge vor den hohen, altmodischen Fenstern waren zu eleganten, üppigen Rüschen zusammengefaßt. Die brusthohe Täfelung gab dem Zimmer etwas vom Gepräge einer Gaststätte. Sie war etwas dunkler als der Rest der Wände. Die weinrote Spitzendecke auf dem Glastisch und die pastellfarbenen Landschaftsmalereien in ihren weißen Rahmen verstärkten das Gasthausgefühl noch. Kein Mann hätte ein Zimmer so eingerichtet. Der Tote mußte eine Frau oder eine Mitbewohnerin haben.

»Wir gehen mit großer Wahrscheinlichkeit davon aus, daß es sich bei dem Toten um Svend Ivar Therkelsen handelt«, wiederholte Ellen Grue. »Er war neununddreißig Jahre alt. Wie gesagt, wir haben in seiner Brieftasche seinen Führerschein gefunden. Dem Türschild zufolge ist das hier seine Wohnung. An der Wand hängt ein Foto mit zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, das sind sicher seine.«

»Frau oder Mitbewohnerin?« Cato Isaksen betrachtete die beiden kleinen Kinder auf dem Foto.

Ellen Grue nickte. »In Badezimmer und Schlafzimmer liegt Frauenkram herum. Therkelsen hat vermutlich bei einer Computerfirma unten in der Innenstadt gearbeitet, wir haben einen Brief mit ihrem Briefkopf gefunden. Aber das könnt ihr selber feststellen, und bitte, trampelt hier nicht zuviel herum«, sagte sie noch einmal, diesmal zu Roger Høibakk, der aufgestanden war, durch das Zimmer lief und gerade in einen großen Schrank aus Kiefernholz schaute.

»Auch am Briefschlitz oder dem Briefkasten, oder wie das heißt, ist Blut«, sagte Ellen Grue. »Vielleicht das des Mörders. In der Küche gibt es Essensreste. Hähnchenstücke auf dem Boden, Salat im Spülbecken«, fügte sie hinzu und ging zu dem Mann, der auf allen vieren den Staubsauger betätigte. Der hatte offenbar etwas gefunden.

Cato Isaksen erhob sich und ging zur Tür neben dem großen Schrank.

»Das ist das Schlafzimmer«, Ellen Grue schaute sich nach ihm um, lag aber noch immer auf den Knien. »Da ist nichts zu sehen.«

Cato Isaksen achtete nicht auf sie und ging hinein. Das Schlafzimmer war weiß, mit weißen Vorhängen und heller Bettwäsche. Das Doppelbett war auf der einen Seite benutzt, die andere war unberührt. Da es sich um eine altmodische Wohnung handelte, mußte man das Schlafzimmer durchqueren, um ins Kinderzimmer zu gelangen. Das Kinderzimmer war in hellem Gelb gehalten, es gab Vorhänge mit blauen Blumen und an der einen Wand Kinderzeichnungen. Ein Etagenbett aus Kiefernholz stand neben dem Fenster in der Ecke. Tina stand auf dem Bild eines roten Autos, in dem eine Frau saß. John auf den drei anderen Zeichnungen, die allesamt Dinosaurier mit großen Stoßzähnen darstellten.

Cato Isaksen machte sich Notizen. Tina und John.

»Die Frau kommt vermutlich aus den USA oder aus England oder so. Vielleicht aus Australien, was weiß ich.« Ellen Grue war ihnen ins Kinderzimmer gefolgt. »Cheryl Waugham Therkelsen.«

»Weiß irgendwer, wo sie steckt?« fragte Cato Isaksen und schaute auf die Uhr, in einer halben Stunde war er vor dem Schwimmbad mit Sigrid verabredet.

»Nein«, sagte Ellen Grue und zuckte vielsagend mit den Schultern. »Aber zum Glück brauche ich das auch nicht zu wissen.«

»Nein, nein, ich dachte nur, ihr hättet vielleicht mit irgendwem gesprochen, die Nachbarn hätten etwas gesagt.«

»Ich habe noch keine Nachbarn gesehen. Alle haben sich verdrückt. Ich habe den Briefkasten unten im Treppenhaus aufgemacht«, sagte sie dann. »Ein drei Tage alter Brief für Cheryl Therkelsen und drei für den Verstorbenen.«

Cato nahm die Plastiktüte, in die Ellen Grue die Briefe gesteckt hatte. »Die Umschläge werden ins Labor geschickt«, sagte sie und verschwand wieder im Wohnzimmer.

»Würdest du wohl Randi anrufen und fragen, ob sie Sigrid erreicht hat?« Cato Isaksen drehte sich zu Roger um.

»Nein, verdammt noch mal. Mach das gefälligst selber!«

Cato Isaksen seufzte und sah die Briefe an. »Dann frag Ellen, wie lange sie hier noch brauchen. Wann können wir anfangen?«

Ellen Grue steckte den Kopf ins Zimmer. »Ihr könnt euch ruhig Zeit lassen, Jungs«, sie lächelte ernsthaft. »Das hier dauert.«

Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi

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