Читать книгу Das dreizehnte Sternbild - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 4
ОглавлениеSie saß in ihrem Holzbett und hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. In den hellgrünen Gittern des Bettes gab es viele kleine Vierecke, wie die Bullaugen auf einem Schiff, wie die Fenster in einem niedrigen Schulhaus, wie in einer geheimen Hütte im Wald.
In einer Ecke des Bettes saß die Puppe, verängstigt und hart und ganz kalt im Gesicht. Wer sollte auf sie aufpassen? Wer sollte sie trösten?
Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, ihre Knie waren vom Vortag her noch schmutzig. Unter den Fußsohlen klebten noch Sandkörner und Teer von der staubigen Straße, wo der Lieferwagen in der heißen Sonne Öl verloren hatte. Solche Sonne konnte Menschen verbrennen.
Ehe sie auf die verklebte, heiße Straße hinausgelaufen war, hatte sie im Auto der Nachbarn gehockt. Das Auto hatte auf dem Platz vor der Haustür gestanden. Sie hatte auf dem Rücksitz gesessen und aus dem halbrunden kleinen Heckfenster hinausgeschaut. Die Puppe streckte die Arme in die Luft, als würde sie eine unsichtbare Last heben. Das Auto stand ganz still. Der Nachbar wusch es gerade, und der Schaum floß die Fensterscheiben hinunter. Der Nachbar hatte das einzige Auto in der Gegend. Er lächelte sie an, und sie durfte sich hineinsetzen. Und der Schaum war bunt. Sie sah Städte, einen Turm und einen Ballsaal, in dem drei Prinzessinnen in lila Kleidern tanzten. Und auf dem Daumen des Nachbarn saß ein stattlicher Prinz. Der Prinz drehte für die drei Prinzessinnen Pirouetten. Aber dann, kaum war er lieb geworden, wurde er auch schon wieder böse und zerrte die Prinzessinnen in den Schaum.
Sie saß auf dem Rücksitz des Autos und roch das warme Gummi der Sitze. Dieser eklige, herbe Geruch ließ ihre Nasenlöcher brennen. Sie hockte da und preßte die Oberschenkel aneinander. Sie drückte so fest sie konnte, während die drei Prinzessinnen von den Fensterscheiben flossen und als kleine Pfütze auf dem Kiesweg endeten. Plötzlich sah jemand sie an. Ihre Mutter stand am Küchenfenster. Ihre Mutter sah sie durch die beiden Fensterscheiben hindurch an. Sie hob den Blick und sah der Mutter durch das Wasser, durch die beiden Fensterscheiben in die Augen. Und sie dachte: Ich weiß nichts. Nichts weiß ich. Nur, daß er tot ist und daß mir das nichts ausmacht.
Aber in der Nacht davor: Da saß sie unter der Decke, in ihrem hellgrünen Holzbett, sie senkte den Kopf und lugte durch die Vierecke im Gitter. Die Puppe schaute auch hinaus, und das Viereck wurde zu einem richtigen Fenster.
Draußen sah sie das Kartoffelfeld, wo sie zusammen mit Henki und Villa Kartoffeln stahl. Noch war es gar kein richtiges Kartoffelfeld, sondern nur ein winziger Flecken zwischen den vielen neuen Wohnblocks. An einer anderen Stelle hatte jemand einen Bus abgestellt. Einen alten verrosteten Bus mit nur zwei Rädern.
Unter der Bettdecke konnte sie noch immer die wütende Stimme ihres Vaters hören. Aber es war eine Sommernacht, draußen war es noch ein wenig hell, und die Decke konnte nicht alles Licht aussperren. Das Licht wollte zu ihr herein, wollte sie wecken. Sie faltete die Hände vor den Knien und sang: Schlaf du ruhig, mein Blümelein, denn es ist noch Winter. Sie sang leise, fast ohne Stimme. Sie hauchte das Lied wie kleine weiße Schneeflocken. Die Puppe bewegte vorsichtig ihren Mund, sie hatte eine schöne helle Stimme. Sie dachte an das viele Baumaterial, das vor dem halbfertigen Block aufgestapelt war. An die vielen Bretter, Steine, die Säcke mit Nägeln und Mörtel und das gelbe Isoliermaterial. Das sah so weich und fein aus, sie hatten es schichtweise zu Prinzessin-auf-der-Erbse-Matratzen aufeinandergetürmt. Aber nicht alles war weich, es gab auch Glas, das sich in ihre Haut gebohrt und gestochen und gekratzt hatte. Wie Nadeln. Die Glasscherben hatten ihre Unterarme zerschrammt, und ihre Mutter hatte sie geschüttelt und gesagt, das sei lebensgefährlich. Aber ob sie davon sterben könnte, so wie von Tinte?
Einmal hatte sie sich mit Tinte die Innenseite ihrer Unterarme bemalt, um die Adern deutlich zu kennzeichnen. Aber ihr Vater hatte gesagt, das sei lebensgefährlich, sie könne daran sterben. Sie war aber nicht gestorben, sie war nur so traurig geworden wie jetzt, weil die Stimme des Vaters auf die Mutter einhackte, weil die Mutter weinte und weil der Vater immer wütender wurde. Die Traurigkeit, die unter ihrer Zunge gesessen hatte, als sie glaubte, sie müsse sterben, zuerst von der Tinte, dann von den Glasscherben, diese Traurigkeit schmeckte hellbraun und durchsichtig. Sie malte der Puppe mit Tinte ein Auge auf die Stirn. Aber im allertraurigsten Moment war sie eingeschlafen. Als sie wieder aufgewacht war, war alles heller und ganz still gewesen. Ihre Matratze war durchnäßt und stank. Und sie fror, aber sie war auch erleichtert, weil sie die Stimme ihres Vaters nicht mehr hörte. An seiner bösen Stimme konnte man sterben. Die Mutter konnte an seiner bösen Stimme sterben. Seine böse Stimme war so schwierig. Aber jetzt: Die Puppe hatte ihr ein Geheimnis erzählt. Die Puppe hatte durch den Türspalt gelugt. Hatte ein Geheimnis gesehen. Mit dem Auge auf der Stirn. Das Auge war aus Tinte. Die böse Stimme war verschwunden. Sie würde nie mehr gefährlicher als Tinte und Glas sein. Die Stimme war ins Himmel-Land gefahren. Die Stimme würde nie mehr zurückkommen.