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VOR DEM ENDE

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Nachdem er seine Familie aus der Kleinstadt zum Bruder aufs Dorf gebracht hatte, ging der Vater davon aus, die Rettung vor den türkischen Versuchen des Fortbringens kleiner serbischer Kinder irgendwohin in die Türkei, selbst bis an den Hof, zum Zwecke ihrer Ausbildung zu Elitekriegern des Reiches sei gelungen. Aber er wusste nicht, dass der herzegowinische Sandschak Beg Skender Ornosović aus Konstantinopel den Befehl erhalten hatte, angefangen im Jahr 1515 und in den darauf folgenden Jahren in Bosnien und der Herzegowina durch Knabenlese »eintausend Knaben auszuheben und sie den Serails zuzuführen …« 1 Doch das bedeutete zusätzliche Sorgen: Um die hohe Quote an besonders begabten Kindern zu erfüllen, die nach der Einnahme von Belgrad 1521, bei dessen Belagerung ziemlich viele Soldaten zu Tode kamen, abermals erhöht worden war, musste der Beg auch ältere Kinder als bis dahin üblich ausheben. Mit welcher Strenge ihm diese Pflicht auferlegt worden war, zeigte sich in der Unerbittlichkeit, mit der dieses Mal den Eltern, die wie zuvor auch ihre Kinder in den Wäldern versteckten, und selbst jenen, die sie absichtlich verstümmelten in der Hoffnung, dass sie so für das Reich nicht mehr brauchbar wären, nicht verziehen wurde. Die Agas ließen auch in solch drastischen Fällen nicht davon ab. Sie suchten sogar alle Klöster heim und trennten jene jungen Burschen vom Buch, die sich anschickten Mönch zu werden. Unter ihnen war auch Bajo Sokolović, ein orthodoxer Seminarist, längst kein Kind mehr, ein gut gebauter Jüngling von fast achtzehn Jahren, der gewaltsam aus dem Kloster Mileševa in das Dorf Sokolovići zurückgebracht wurde. Neben seiner Belesenheit war noch etwas ungünstig für ihn: Er stammte aus einer Adelsfamilie. Kinder aus solchen Familien waren als Nachwuchs außerordentlich begehrt. Die Tatsache, dass er sich das christliche Wort Gottes angeeignet hatte, stellte für die Osmanen ganz und gar kein Hindernis dar. Vater Dimitrije erfuhr sogleich von der Besonderheit seines Falls: Der Anführer der Janitscharen namens Mehmed Beg gab zu, dass im Falle seines Bajica sogar ausdrücklich gefordert war, diesen im Rahmen der Knabenlese in die Residenzstadt zu bringen! Er ließ ihn dies wissen und tröstete ihn damit, dass sein Sohn für wichtige Positionen und noch wichtigere Taten vorbestimmt sei – dies beweise die Tatsache, dass ein Sokolović nach ihm suche, der auf dieselbe Art und Weise, zwanzig Jahre vorher, in das kaiserliche Serail entführt worden war. Er hieß jetzt Deli Husrev Pascha. Nach ihm kam dort kurz darauf auch sein jüngerer Bruder an, der nunmehr Mustafa hieß. Husrev war am Hofe des Sultans sehr schnell vorangekommen, als Pascha oblag es ihm bereits, auch wichtige Beschlüsse zu fassen. Das waren alles zusätzliche Gründe, weshalb es dem Vater und seinem weiteren Bruder – dem Mönch aus Mileševa – gemeinsam mit dem Klosterältesten von Mileševa, Božidar Goraždanin, weder mit Bitten noch mit Geld gelang, den Aga davon abzubringen, Bajica mitzunehmen. Zum Schluss musste er sich als Vater damit trösten, dass man die zwei jüngeren Söhne bei ihm beließ. Der Raub des einen Jungen befreite ihn für alle Zeiten von dem Bangen um die übrigen Söhne: Die Türken hielten sich streng an die eigene Regel, dass einem Haus nur ein männliches Kind weggenommen werden konnte.

Natürlich gab es nichts, was den Abschiedsschmerz lindern konnte. Falls ein Vergleich überhaupt angebracht war, so der, dass es für Bajica am schwersten war. Einzig er ging fort, all die Seinen blieben (wie es einst im Volke hieß) »in der Horde« und so blieben sie wenigstens teilweise verschont von der Bürde der Einsamkeit, die er beim Abschied trug. Und zweitens wurde er, der das Haus unter Zwang verließ, ins Unbekannte getrieben, während die ganze Familie unter sich blieb.

Auf dem langen Weg durch Serbien und Bulgarien konnte er nur darüber nachdenken, was er hinter sich zurückgelassen hatte oder was vor ihm lag. Das erste brachte ihn zum Weinen, das zweite flößte ihm Angst ein.

Völlig ausgezehrt von ununterbrochenem Weinen, das sich allmählich in Schluchzen, und dann in tiefe und laute Seufzer verwandelte, versiegten seine Tränen irgendwann – es waren ganz einfach keine mehr da. Er konnte nur noch innerlich weinen.

Hätte er damals wenigstens gewusst, dass er einen gehörigen Teil seines künftigen Lebens genauso verbringen würde – in sich gekehrt –, vielleicht wäre ihm dann leichter zumute gewesen! Würde er irgendwann öffentlich und hörbar am Ende seines Lebens sagen, er habe den größten Teil seines Lebens in seinem Inneren verbracht, würde ihm das niemand glauben. Wie denn auch: sein Leben – selbst so gewaltsam unterbrochen – war ein Beispiel für Langlebigkeit. Noch dazu war es derart öffentlich und wichtig, als dass irgendein Leben – von wem auch immer – überhaupt für einen Vergleich herhalten konnte.

Das Handeln des Herrschers war dermaßen im alltäglichen Blickpunkt der Öffentlichkeit und jedes Einzelnen im Reich, dass es auf Grund jener echten und scheinbaren Dichte des Einbringens offizieller Beschlüsse, des Agierens und Verfahrens, des Bekanntmachens von Aufrufen, des Reisens, des Empfangens von Gästen, des Bestrafens von Ungehorsamen, häufiger Jagdausflüge und so weiter so aussah, als wäre er ein großer Wesir und gänzlich ohne Zeit, auch nur irgendetwas für sich zu tun, geschweige denn manchmal auch eine Privatperson zu sein. Die Häufigkeit der offiziellen Verpflichtungen (von denen übrigens einen großen Teil der gehorsame Apparat des Herrschers erledigte und nicht er persönlich) und besonders die ständige Verbindung seines Namens mit allem und jedem, wobei der Eindruck entstand, er wäre bei jeder Erwähnung seines Namens auch selbst physisch präsent, untermauerte die Illusion von seiner Allgegenwart. Wäre es erlaubt gewesen, hätten ihn wahrscheinlich einige seiner Untertanen wegen derart vieler Pflichten auch noch bedauert. Deshalb entstanden auch die Geschichten über des Herrschers Doppelgänger: Eine solch starke öffentliche Präsenz konnte nur eine vervielfachte Erscheinung erfüllen; da das jedoch nicht möglich war, wurden Geschichten über Doppelgänger des Herrschers erfunden. Später kamen Gründe für das gleichzeitige Auftauchen des Herrschers an mehreren Orten hinzu, zum Beispiel der des Vermeidens eines Attentats.

Die Kolonne von Pferden und Menschen, die sich wie ein dickes Tau endlos in die Länge zog und an beiden Enden aus seinem Blickfeld rückte, half ihm beim Ordnen der eigenen Gedanken. Zunächst war klar, eine Rückkehr zu dem, was vorher war, konnte es nicht mehr geben. Eine Flucht war kaum ausführbar und falls doch, bliebe die Frage, wohin mit der Freiheit. Die neuen Herren seines Schicksals wussten, wer er ist; er war nicht als zufällig gefundenes Kind hierher gelangt, sondern als bewusst ausgewählter junger Bursche mit Vornamen, Nachnamen und Stammbaum. Sein Eintreffen im Osmanischen Reich war sogar in Auftrag gegeben worden! Ja, er war in die Fremde gebracht worden, aber nicht um zu verschwinden, sondern um etwas zu werden. Es galt klug und pragmatisch zu sein. Es lohnte sich, allem etwas Gutes abzugewinnen, wenn nicht gar Nutzen daraus zu ziehen, hatte ihm der Vater gesagt.

Er betete zu seinem Gott, dass dieser ihn nicht vergessen möge. Er betete, dass ihn das Gedächtnis nicht verlassen möge. In diesem Moment schien es ihm »er selbst« zu sein »sich erinnern« zu bedeuten. Obwohl die Erinnerung allmählich aus dem Bewusstsein in den physischen Körper wanderte und somit ein organisches Gedächtnis schuf, das jemanden zu dem macht, was er insgesamt ist (eigentlich, woraus er besteht), musste er sich vor dem Vergessen fürchten. Er ging davon aus, dass Vergessen nicht mehr da zu sein bedeutete. Er wusste nicht, dass der Körper genauso imstande ist, zu lesen wie der Verstand: der Körper las gerade jetzt, ihn vor dem Neuen beschützend, seine Kindheit, die Sprache, den Glauben, die Eltern, Brüder und Schwestern, die Klosterzelle und deponierte alles in den entlegensten Teilen des Körpers, bereitete die Botschaften jener Sprache auf einen zeitweiligen Traum von ungewisser Dauer vor. So konnte die Erinnerung mit Sicherheit fortdauern.

Erst im Lauf der Zeit begann er zu verstehen, warum seine neuen Herren, Herrscher und Besitzer zugleich, sich nicht übermäßig um das Problem von Vergessen und Nichtvergessen dessen sorgen mussten, was er und all die anderen Kinder hinter sich gelassen hatten. Durch das Tempo der nachfolgenden Ereignisse sowie den Umfang der neu entstandenen Pflichten erledigte sich das von allein.

Hamam Balkania

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