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KAPITEL VI
ОглавлениеAls Lord Byron 1814 das Buch Der Korsar veröffentlichte, wurden am ersten Tag 10 000 Exemplare verkauft. Aber da er im Einklang mit seiner aristokratischen Konsequenz sein Schreiben nicht zu Geld machen wollte, hat nicht er so viele Bücher verkauft, sondern die Verkäufer. Er war von nachhaltigem Charakter, weil er sich nicht verkaufen wollte. So bereicherten sich andere an seinem Werk, während er immer weiter in materielle Schulden geriet, »in Übereinstimmung mit seinem Namen und seiner Würde«, wie der charmante Interpret von Byrons Werk Zoran Paunović es ausdrücken würde.
Ich möchte hinzufügen: Das ist ein Fall von nachhaltiger Umwandlung der Mathematik in Literatur. Es gilt zu bemerken, dass das ein seltenes Beispiel für Transformation in die dem Üblichen entgegengesetzte Richtung ist.
Ach, ja! Fast hätte ich es vergessen (wie die berühmten Historiker): Als in England der erwähnte Geldverlust eintrat, verloren zur selben Zeit auf dem Balkan Serben und Türken ihr Leben. Im Gange waren die Vorbereitungen für den Zweiten serbischen Aufstand, im Westen besser bekannt als die Zweite serbische Revolution. Totes Kapital im Westen und tote Menschen im Osten. Die einen erkauften mit Geld die Freiheit des Lesens, die anderen die Freiheit zu leben – mit dem Tod.
Das gute alte Europa in beiden Fällen, die einen befreite es von der Sklaverei, die anderen machte es zu Sklaven.
Dieses ganze Ummodeln von Mathematik in Geschichte, das Überschwappen der Rechenvorgänge in die Literatur … ist im Grunde eine Vorbereitung zur Erörterung der Lebensstrategie einer Nation und eines Staates, der seine zeitliche Existenz beobachtet und durch das Prisma von Angriff und Verteidigung betrachtet. Es ist auch eine Einführung in Überlegungen, wie man eine Niederlage in einen Sieg verwandelt.
Ich war mir ganz sicher, dass bei einigen türkischserbischen, sowohl gesondertern als auch gemeinsamen Beispielen, aus der Geschichte beider Völker, beider Staaten, beider Reiche – Orhan Pamuk und ich eine Form von Wahrheit, vielleicht sogar eine neue, mögliche Wahrheit erlangen können. Und wenn nicht Wahrheit, dann wenigstens die eine oder andere Behauptung oder zumindest eine triftige Hypothese. Ich spürte den unwiderstehlichen Wunsch danach.
Pamuk hat mich mit dem Satz für sich gewonnen, der ein wenig scherzhaft begann, aber am Ende kein Scherz war:
»Du bist sehr hartnäckig mit diesen Zahlen und der Kunst des Schreibens. Ich gebe dir ein zugegebenermaßen fremdes Beispiel, wie Literatur sich in Geschichte verwandelt, wie Fiktion zur Faktografie wird.«
Und dann zitierte er Voltaire, der anlässlich der berühmten Seeschlacht von Lepanto 1571 zwischen dem osmanischen Heer und der vereinigten christlichen Flotte den folgenden Satz niederschrieb, der die Absurdität des Verhältnisses von Wahrheit und deren Hintergrund abbildet: »Es schien, als hätten die Türken die Schlacht von Lepanto gewonnen.« (Hervorhebungen von mir).
Natürlich bedürfen diese Worte der Klärung, die nun folgt, hauptsächlich im Rahmen unseres Gesprächs.
Ich gebe zu, dass dieses Zitat hinsichtlich der Glaubwürdigkeit des Ereignisses für mich mindestens zwei Bedeutungen hatte, weil die Rede von a) einer der seltenen, unstrittigen und drastischen Niederlagen des Osmanischen Imperiums war und das auch noch b) auf dem Gipfel seiner Macht.
Ich fragte Pamuk, was er an dieser Niederlage auszusetzen hat.
»Man könnte sagen, eine Niederlage ist wie die andere. Aber in diesem Fall war die Niederlage nicht unvermeidlich. Es war dumm, zuzulassen, dass so etwas passiert und es war selbstverständlich völlig unnötig. Es überwogen jedoch der osmanische, imperialistische Hochmut und die übertriebene Sicherheit, die aus den vorangegangenen Siegen entstanden war, vor allem aus dem letzten bei der Eroberung Zyperns.«
»Das heißt, dass diejenigen, welche die Entscheidungen getroffen haben, nicht einig waren.«
»So ist es. Da gab es Umsichtige, Weise und Erfahrene, die gegen den leichtfertigen Eintritt in den offenen Kampf waren.«
»Wer war auf welcher Seite?«, fragte ich.
»Dem Obersten Flottenkommandant des Sultans Ali Pascha Müezzinzade gelang es, fast alle Mitglieder des Rates der Wesire für den Angriff zu gewinnen, indem er enthusiastisch die Größe und Stärke vorheriger Eroberungen beschwor. Darüber hinaus hatte er auch die Unterstützung des Großmuftis.«
»Wer war umsichtig, wer weise und wer erfahren?«, hakte ich weiter nach, da mir Pamuks Fähigkeit, mit Epitheta um sich zu werfen, bekannt war.
»Der zweite Wesir des Reiches, Pertev Mehmed Pascha, der in der Armee die Position des ältesten strategischen Beraters innehatte, war nicht sicher bezüglich der Angaben zur Stärke der feindlichen Armee, vor allem einer, die so bunt gemischt war. Der Bund, den 1571 das christliche Oberhaupt, Papst Pius V geschlossen hatte, diesmal mit Erfolg, vereinigte die Republik Venedig, Spanien, Malta und die italienischen Städte. Aber Ali Pascha war sich sicher, dass die Ungläubigen auch diesmal Zwietracht zeigen würden wie schon mehrmals zuvor, was einzeln Schwäche heißen konnte, und so gab er nichts auf die Umsicht des Pertev Pascha. Der Großwesir Mehmed Pascha Sokolović forderte den Aufschub des Konflikts bis zum nächsten Jahr. Die Weisheit erlegte ihm auf, zu warten, bis die Flotte noch besser ausgerüstet sein würde. In diesen Dingen hatte er Erfahrung: Er war derjenige, der seinerzeit den legendären Chaireddin Barbarossa im Jahr 1546 in der Position des Admirals der osmanischen Flotte abgelöst hatte. Einzig weil dieser verstorben war, ansonsten hätte er nicht einmal den Versuch gewagt, sein Nachfolger zu werden. Aber Sultan Süleyman, der Gesetzgeber4, hatte einen Befehl erteilt, dem er sich nicht widersetzen durfte. Als er endlich eingewilligt hatte, ahmte er in einem Prozess des vernünftigen Überdenkens der eigenen Entscheidungen die Handlungen und Erklärungen seines großen Vorgängers nach. Eine davon war: Niemals hasten, auch nicht in einen Sieg!«
»Und erfahren, wer war erfahren?«, fragte ich weiter.
»Uludsch Ali, der berühmte Korsar, dem der Sultan aufgrund seiner sklavischen Loyalität die Befehlsgewalt über einige Teile der Marine anvertraute, die er mehr als fünfzig Jahre ausübte. Dieser mutige Mann zerstörte über viele Jahrzehnte mit außergewöhnlichem Erfolg europäische Flotten im Mittelmeerraum. Aber er hatte zwei schlechte Seiten. Die eine war eine scharfe Zunge (die ihm wegen seiner unermesslichen Erfahrung manchmal verziehen wurde). Aber diesmal hatte er vor Müezzinzade Ali Pascha die folgenden (allzu) offenen Sätze ausgesprochen, und das, als er sah, dass jener nicht von seinem verhängnisvollen Entschluss abließ: ›Die Türken aus Konstantinopel können sich nicht annähernd die Stärke der christlichen Flotte vorstellen. Diesem Vieh (damit es keine Verwirrung gibt, genau so hat er sie benannt – die hauptstädtischen Türken, nicht die Europäer! –, kommentierte Pamuk) muss man die Nachrichten über Anzahl und Stärke des europäischen Feindes übertrieben darstellen, damit ihnen wenigstens auf diese Weise die Wahrheit einleuchtet!‹
Müezzinzade Ali Pascha, den stolzen und mutigen Mann, verletzten diese Worte und er gab genauso zurück: ›Du willst die Christen verschonen, weil du in deiner Jugend auch einer warst! Du willst deine italienische Heimat retten!‹
Diese abstoßende Beleidigung saß: Uludsch Ali verstummte, denn er wollte nicht, dass man an seiner Ergebenheit und seinem Mut zweifelte. (Die christliche Herkunft war, neben seinem losen Mundwerk, seine andere schlechte Seite).«
Ich dachte über die Schläue von Ali Pascha nach. Mit diesen Worten hatte er gleichzeitig den Großwesir und den zweiten Wesir beleidigt, und in einer solchen Situation wurde das scheinbar unangefochten hingenommen. Aus reiner Besonnenheit haben weder Mehmed Pascha Sokolović noch Pertev Mehmed Pascha auf diese Bemerkung reagiert. Hätten das die getan, die ursprünglich Serben waren, und noch dazu gemeinsam mit dem bereits herausgeforderten Uludsch Ali, wären zweifelsohne alle als Verteidiger ihres ursprünglichen christlichen Glaubens wahrgenommen worden. In diesem Zusammenhang war Ali Pascha unverschämt listig, da er solch eine Reaktion vorausgeahnt hatte. Pamuks weiteres Erzählen bestätigte das nur.
»Sultan Selim hat in dieses Schweigen hinein, während er seinen Turban abnahm, folgendes Urteil gefällt: ›Wenn dieser Turban drei Köpfe bedecken kann, werden auch die Ungläubigen vereint gegen mich auftreten …‹«
Pamuks Zitieren des Sultans ließ mich darüber nachdenken, dass dessen charmante aber zwanglose Eloquenz das Reich mitunter teuer zu stehen kam. Dass die Entscheidung weder einstimmig noch leicht getroffen wurde, ist ein schwacher Trost. Obwohl sie immerhin von der Existenz sehr vernünftiger und besonnener Menschen an der Spitze der Macht zeugt, die eine allumfassende Prognose bevorzugten.
Zum Leidwesen des Osmanischen Reiches »traten die Ungläubigen vereint auf«. In die Schlacht in der Bucht von Lepanto eingetreten, wohin sich die türkische Armada zurückgezogen hatte um auf den Feind zu warten, nebenbei noch Korfu ausplündernd, erhielt Ali Pascha zusätzlich moralischen Rückenwind, obgleich sich der echte Wind kurz vor dem Beginn des Aufeinandertreffens der zwei Armeen zugunsten der Christen gedreht hatte.
Pamuk verdeutlichte mir das Kräfteverhältnis vor der Schlacht:
»Müezzinzade Ali Pascha führte eine Flotte von 120 Galeeren und 66 Galiotten5 mit ca. 50 000 Ruderern und Matrosen und ungefähr 25 000 Soldaten an Bord. Don Juan de Austria beteiligte sich am Kampf mit einer Flotte von 236 Galeeren und 6 schweren Galeassen6. Auf seinen Schiffen befanden sich 44 000 Ruderer und Matrosen sowie 28 000 Soldaten. Obwohl die christliche Armee insgesamt über weniger Schiffe und kleinere Mannschaften verfügte, war sie doppelt so gut mit Waffen ausgestattet, sowohl mit schweren Kanonen als auch mit allen anderen Feuerwaffen. Das hat auch die Schlacht entschieden.«
»Nun erzähl mir von den Zahlen nach der Schlacht.«
»Ja. Und die strategische Beschreibung der Schlacht werde ich überspringen. Obwohl auch heute noch an den Militärakademien als Beispiel jedes Detail der bis dahin größten Seeschlacht in der Geschichte studiert wird. Also, die Flotte von Ali Pascha verlor über 200 Schiffe, von denen mehr als 80 versenkt und 117 vom Feind erbeutet wurden. Ungefähr 25 000 türkische Soldaten und Matrosen kamen um und 3 500 wurden gefangen genommen. Von den eroberten Schiffen wurden 12 000 christliche Sklaven befreit, die als Rudersklaven7 dienten. Die Flotte der Heiligen Liga hatte lediglich ca. fünfzehn Galeeren an Verlusten sowie 8 000 Tote und 2 500 Verletzte zu beklagen. Daher war die türkische Niederlage eine totale und schreckliche.«
»Mir ist klar, dass du all diese Zahlen anführst, um irgendetwas hervorzuheben«, unterbrach ich ihn. »Ich gehe davon aus, dass die Konsequenzen aus der Niederlage das Wesentliche sind?«
»Oh, ja. Der Schock unter den Osmanen war unbeschreiblich. Sich in Sicherheit wiegend und ständig angeheizt durch die selbstverliebte Begeisterung der Macht, konnten sie nicht einmal die theoretische Option einer Niederlage akzeptieren und noch weniger den Fakt, dass so etwas geschehen war. Die Nachricht erhielt der Großwesir Sokollu von Pertev Pascha, der es geschafft hatte, seinen Kopf zu retten, indem er sich irgendwie zum Ufer durchschlug. Er meldete auch, dass der Kapudan Pascha8 Müezzinzade Ali Pascha im Kampf gefallen sei und seine beiden Söhne gefangen genommen wurden. Dieser Brief erreichte Mehmed Pascha in Edirne, wo er den Sultan und die ganze Gefolgschaft auf der Herbstjagd begleitete. Zeugen sagen, dass er sich selbst den Bart ausriss und dass er Sultan Selim die Nachricht in dem Augenblick überbrachte, als dieser mit dem Dragoman9 aus Dubrovnik sprach. Dieser Gesprächspartner hat bezeugt, dass der Sultan nach dem Empfang dieser Nachricht bestürzt war und dann große Angst zeigte, dass die Sieger Konstantinopel angreifen könnten. Daher befahl er, sofort bestmöglich die Dardanellen zu schließen und die Hauptstadt vor jeglichen Angriffen zu schützen.«
»Ich habe gelesen, dass diese Nachricht echte Verwirrung und Angst in der ganzen Türkei ausgelöst hat«, sagte ich zu Pamuk. »Das Volk hat in der Tat, mit heutigen Worten ausgedrückt, einen kollektiven Schock erlebt. Also, ich zitiere für dich genau den Zeugen, in dessen Anwesenheit dem Sultan diese Nachricht übermittelt wurde, den Gesandten aus Dubrovnik, den du soeben erwähnt hast. Da er direkt anwesend war und dieselbe Sprache wie der Großwesir Mehmed Pascha sprach, was ein zusätzlicher Vorteil war, notierte er äußerst detailliert die Reaktionen der Öffentlichkeit und der Menschen: ›Das Jammern und Klagen war unglaublich, auch die unendliche Verzagtheit, die diese Menschen auf einmal offenbarten. Vor kurzem sprachen sie noch gut gelaunt mit Geringschätzung und Verachtung von den christlichen Kräften, nun da Überheblichkeit und Hochmut dahinschwanden, weinten sie wie Frauen. Sie dachten allein daran, wie sie der sich nähernden Gefahr entgehen und einen Krieg vermeiden konnten.‹«
Pamuk knüpfte daran an.
»Und objektiv betrachtet war die Angst nicht unbegründet. Diese Niederlage hatte viele Aufstände der im selben Moment ermutigten Christen zur Folge, die unter den Osmanen lebten. In der westlichen Welt fand dieser Sieg der Christen einen starken Widerhall und bestärkte Europa in dem Gedanken, dass nach zwei Jahrhunderten ständiger Niederlagen und ständiger Angst etwas völlig Anderes eintreten könnte. Die bis dahin herrschenden Kräfteverhältnisse gerieten nach langer Zeit ins Wanken.«
»Ich habe auch gelesen«, fuhr ich fort, »dass die wahren Probleme begannen, als der Großwesir Mehmed Pascha Sokolović, der wie es scheint, der einzige war, der den Kopf nicht verlor oder der erste, der sich wieder gesammelt hatte, es schaffte, den Sultan zu überreden, zu einer Art offensiven Handelns überzugehen. Nicht zu militärischem Handeln, sondern zu Aktivitäten, die die Passivität, die den gesamten Staat völlig lahmgelegt hatte, überwinden sollten. So wurden schnell Fermane10 über die erneute Rekrutierung von Soldaten und den Wiederaufbau der Marine erlassen. Aber offensichtlich gingen die Probleme da erst los! Wie aus den Papieren hervorgeht, wollten die Rechtgläubigen des Sultans ›nichts mehr vom Krieg wissen‹, es geschah sogar, dass die gesamte Bevölkerung aus ›dreihundert anatolischen Dörfern auf persisches Gebiet flüchtete, aus Angst davor, dass ihre Bewohner wieder auf die Galeeren getrieben würden.‹«
Pamuk vervollständigte nur meine Zitate.
»Da gab es noch mehr. Eine große Anzahl von Edelmännern begann sich von ihren Titeln und Einkünften loszusagen, weil sie ohne diese nicht verpflichtet waren, den Steuer- oder (Vor-) Kriegsverpflichtungen der Pforte nachzukommen. Deswegen ließ der Sultan viele Spahis pfählen, um andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber das waren dennoch Schritte der Verzweiflung.«
»Untröstlich kehrte Selim II nach Konstantinopel zurück und versuchte, die Gründe der Niederlage zu begreifen. Er hielt unendlich lange Sitzungen des Diwans ab, befragte jeden um sich herum, erörterte mit dem Großwesir bis tief in die Nacht hinein, was ihre Ursachen sein könnten und was die Folgen, er rief jeden zu sich, der als weise und erfahren galt, befragte die Hellseher, rief die Propheten … und überall und vor jedem wiederholte er, dass ›das Osmanische Reich solch ein Unglück bisher nicht getroffen hatte‹. Er bemühte sich keineswegs, seine Erschütterung zu verbergen.«
Ich ging daran, dieses seltene historische Bild der Panik mit Angaben aus der Chronik der Zeitgenossen abzurunden.
»Aus panischer Angst heraus trug das Handeln des Sultans vollkommen irrationale Züge: Von den Leuten, die unmittelbar an der Schlacht von Lepanto teilgenommen hatten, bestrafte er einige grundlos und andere zeichnete er unverdient aus. Dem zweiten Wesir, dem alten Pertev Mehmed Pascha, der gegen den Konflikt war, sich aber trotzdem im Kampf tapfer geschlagen hatte, entzog er den Titel des Wesirs und erlaubte ihm nicht, die Fehler der anderen zu rechtfertigen (denn eigene hatte er nicht). Zur gleichen Zeit zeichnete er den algerischen Korsar Uludsch Ali aus (der ebenfalls gegen die Teilnahme an dem Kampf gewesen war!), denn ihn sah er als Helden. Aber dieser hatte sich, als er begriff, dass sich die Ereignisse für die Türken nicht zum Guten entwickeln würden, rechtzeitig, oder besser gesagt vorzeitig, aus dem Gefecht zurückgezogen. Heimlich verließ er den Hafen von Preveza und sammelte auf dem Weg die Restbestände der Flotte ein. Er schaffte es, ungefähr achtzig Galeeren teils unbeschädigt, teils beschädigt einzusammeln und mit gehisster Flagge, die er den Malteser-Rittern entwendet hatte, fuhr er, fast wie ein Sieger, in den Hafen von Konstantinopel ein. Für diesen Mut während der Rückkehr bekam er den Dienstgrad des neuen Admirals der osmanischen Flotte. (Aber vielleicht war der Sultan im Grunde genommen nur klug genug, weil er auf diese Weise unproblematisch den Platz des getöteten Kapudan Pascha Müezzinzade besetzte).«
Natürlich wusste Pamuk mehr als ich. Er fügte hinzu:
»In welcher psychischen Verfassung der Sultan war, sagte mir sein Verhalten gegenüber seinem Günstling und alten Freund Celal Çelebi, mit dem er jahrelang getrunken und rumgehurt und jedes seiner Geheimnisse geteilt hat. Er wandte sich von ihm ab und vertrieb ihn vom Hof, nur weil Großmufti Ebusuud Effendi in ihm einen Schuldigen für die Niederlage ausgemacht hatte (obwohl bis zum heutigen Tag seine Rolle in der Schlacht oder bezüglich der Entscheidung dafür schwer nachzuvollziehen ist).
»Es sollte gesagt werden, dass der Sultan und der Großwesir, was ihre gegenseitige Beziehung angeht, bei Sinnen blieben und sich nicht gegeneinander wendeten. Wahrscheinlich haben beide verstanden, dass das die Lage nur erheblich verschlechtern würde und sie in einer derartigen Situation ohne einander schlecht zurechtkämen.
Beide zollten sich gegenseitig auch Anerkennung: Mehmed Pascha berief sich nicht auf seinen rechtzeitigen Widerstand gegen die Eröffnung der Schlacht von Lepanto und wiederholte das kein einziges Mal. Er nutzte auch nicht die Möglichkeit, die Schuld auf irgendjemanden abzuwälzen – was er durchaus hätte tun können. Der Sultan zeigte gegenüber dem Großwesir keinerlei Missmut, geschweige denn Zorn. Er gab ihm auf verschiedene Arten zu verstehen, dass er sich dessen bewusst war, dass Sokollu Mehmed Pascha im Recht war. Aber er sprach das nicht aus.«
Ich fragte Pamuk:
»Was meinst du, hat der Sultan beim Abwägen der Argumente für oder gegen einen Kampf mit der europäischen Flotte die christliche Herkunft des ersten und zweiten Wesirs und auch des Korsarenbegs in Betracht gezogen? Stellte er Überlegungen an wie der Flottenadmiral?«
»Ich bin mir sicher, dass er das nicht tat. Jeder Würdenträger und jeder Sultan an der Macht hatte hunderte Möglichkeiten, die Loyalität seiner Untergebenen zu prüfen. Warum hatte deiner Meinung nach ein jeder so viele Stufen auf der Karriereleiter vor sich? Und warum dauerte jeder Schritt so lange? Na, jeder kleinste Schritt war ein Test für die Ehe zwischen Ambition und Loyalität! Der Sultan hatte es nicht nötig, sich auf die Ebene der Beleidigung seiner Untertanen zu begeben, wie das Müezzinzade getan hatte. Hegte der Sultan Zweifel, dann rollten die Köpfe.«