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Hitler von innen

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20. Zeuge – Hitlers Geistdiener und Chronik-Sekretär Thomas Orr

»Am Anfang ihrer Lebensgemeinschaft mit Hitler, von der Eingeweihte bezweifeln, dass es auch eine Liebesgemeinschaft war, steht ein Selbstmordversuch, und am Ende der gemeinsame Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei. Der Berghof war für Eva kaum mehr als ein luxuriöses Gefängnis. Eine [Foto]Aufnahme wie die nebenstehende (aus Privatbesitz), die Eva Braun Arm in Arm mit Hitler zeigt, gehört zu den größten Seltenheiten. Solche Fotos erhielten den Stempel: ›Achtung! Veröffentlichung verboten!‹« (Orr, Nr. 40 vom 4. Oktober 1952, S. 5, B. 13, 14)

Zu den Eingeweihten, von denen Thomas Orr spricht, gehörte auch er selbst – auf eine besondere und Hitler-biografisch bis heute nicht beachtete Weise.

Dank Hitlers einflussreichstem deutschen Nachkriegs-Biografen Werner Maser kann seit 1971 überhaupt erst gewusst werden, dass Orr »ein akademischer Mitarbeiter des ehemaligen Hauptarchivs der NSDAP« war und er die zweite deutsche Nachkriegs-Hitler-Biografie 1952 »unter dem Pseudonym Thomas Orr« publiziert hat (Maser 01, S. 552, Anm. 12) – fast zeitgleich mit der ersten deutschen, nach 1945 erschienenen von Walter Görlitz und Herbert A. Quint. (Görlitz/Quint) Der Dritte im Bunde war 1952 der Brite Alan Bullock. (Bullock 52)

Maser behielt seine Information von 1971 bis in die jüngste Ausgabe seiner Hitler-Biografie von 2001 bei. Es gibt demnach keinen Grund, ihr auszuweichen. Doch Maser versteckte sie inmitten seiner tausend Anmerkungen, sodass diese überraschende Nachricht in Anbetracht von Thomas Orr als ehemaligem Hauptarchiv-Mann die Hitler-Forschung nicht erreichte. Denn Maser zitiert Orr nur ein einziges Mal in einer unwichtigen Nebensache und behandelt seinen potenten Hitler-Biografie-Vorläufer als einen marginalen Artikelserie-Schreiber. (Maser 01, S. 80) Diese erniedrigende Sichtweise wird bis heute von der Hitler-Forschung übernommen. Zum Beispiel kommen weder Orr noch Görlitz/Quint in der Hitler-Biografie von Volker Ullrich vor – einer der Gründe, warum es bei Ullrich zu den Verstiegenheiten in Bezug auf Hitlers »normal funktionierende Heterosexualität« kommen konnte. Eine genaue Kenntnis von Orr hätte Ullrich rechtzeitig eines Besseren belehrt.

Der Quereinsteiger in die Hitler-Biografik, Anton Joachimsthaler, hat sich fast 20 Jahre nach Maser mehrmals auf Nachrichten von Thomas Orr berufen, ihn als Quelle zum ersten Mal ernst genommen und durchlaufend zitiert – 1989 in seiner Korrektur einer Biographie. (Joachimsthaler 89)

Doch abermals trat die Besonderheit des frühen deutschen Nachkriegs-Hitler-Biografen Thomas Orr noch nicht zu Tage, weil Joachimsthaler seinen Vorläufer, Werner Maser, ständig attakiert. So war er nicht empfänglich für Masers Meriten, die Masers Negativa immer noch die Waage halten. Joachimsthaler bemerkte Masers essentielle Aufdeckung der Herkunft von Thomas Orr als ehemaligem NSDAP-Hauptarchiv-Mann nicht.

Erst ein weiteres Jahrzehnt später stellte der englische Historiker Ian Kershaw 1998 im ersten Band seiner Hitler-Biografie Thomas Orrs Publikation von 1952/53 so heraus, dass mit einem Mal ihre Sensation erkannt werden konnte. (Kershaw 98, S. 7 / 603, S. 10 / 605)

Mit Thomas Orr, der seine Hitler-Biografie zurecht Tatsachenbericht untertitelt, beginnt die Dokumentation in der Hitler-Forschung und endet die spekulative Phase, in der sich die frühen Zu-Lebzeit-Hitler-Biografen Rudolf Olden und Konrad Heiden 1935 und 1936/37 noch notgedrungen befinden mussten.

Thomas Orr war ein »Spezial-Naher« im Umfeld von Hitler. Orr muss in die Reihe der Diener, Adjutanten, Sekretärinnen und engsten Freunde Hitlers gestellt werden. Nach der Lektüre von Orrs in der ehemaligen Münchener Hausfrauen-Illustrierten Revue versteckten Hitler-Biografie wird sogar deutlich: Orr gehört nicht nur in die Reihe neben die Diener etc., sondern muss in mehreren Punkten bei der Wahrheitssuche über die anderen Hitler-Nahen gestellt werden. Orrs Äußerungen beherbergen zu manchen Dingen den gefülltesten Wahrheitsgehalt.

Freunde und Sekretärinnen waren auch mal äußerlich oder innerlich abwesend, haben bei Zusammentreffen mit Hitler nicht immer auf alles aufgepasst oder etwas nach eigenem Gutdünken verschieft. Und die Rund-um-die-Uhr-Diener können zuweilen gedöst haben, bekamen auch oft nur noch den mechanisch funktionierenden »Körper-Hitler« vorgesetzt.

Thomas Orr als ehemaliger Mitarbeiter des Hauptarchivs der NSDAP war beauftragt, Material für eine einstmals zu publizierende Hitler-Biografie zu recherchieren und zu sammeln. Er war inhaltlich positionell ein Wahrheitsdiener. Was dann später von seinen gefundenen Einzelheiten in die geplante mehrbändige Hitler-Enzyklopädie bei Andauern des »1000jährigen Reiches« hätte hineingelassen werden dürfen, wäre eine andere Sache gewesen. Doch zuerst einmal sollte so gründlich und genau wie möglich, das hieß, der Realität Hitlers entsprechend, untersucht und – auf Vollständigkeit bedacht – gesammelt werden.

Somit ist die heute noch im Bundesarchiv Berlin existierende Material-Anhäufung des Hauptarchivs der NSDAP in vielen Details ein Hort der Wahrheit über Hitler. Nur bei den Dingen, mit denen sofort noch im Nazi-Reich an die Öffentlichkeit gegangen wurde, wie bei Hitlers Abstammung und bei Hitlers zweiter Kriegsverwundung, musste vom Prinzip der Wahrheits-Sammlung abgewichen werden (zweites und drittes Buch). Für die Vertuschung der Realitäten um Hitlers zweite Kriegsverwundung hatte das Hauptarchiv selbst so fälschend mitgearbeitet, dass bis heute in der gesamten Hitler-Biografik ohne Ausnahme geglaubt und ausgewalzt wird, Hitler sei durch eine Gelbkreuz-Gasvergiftung im Oktober 1918 an der Westfront Augen-geschädigt worden und/oder hätte angeblich unter zeitweiliger Blindheit gelitten.

Im dritten Buch muss daher militär- und medizinhistorisch rekonstruiert werden, dass Hitler nicht durch Gelbkreuz blind war, sondern durch andere Gasmunitionen Stimmbänder-involviert stumm – und zwar real und nicht eingebildet, damals »hysterisch« genannt oder »Kriegs-neurotisch«.

Diese Forschungen nunmehr gegen das Hauptarchiv der NSDAP als »Lügenhort« waren nötig, um eine Basis zu schaffen, von der aus Hitlers Wesensveränderung durch einen militärärztlichen Missgriff im Reserve-Lazarett zu Pasewalk von der Hitler-Biografik rezipiert werden kann.

Wenn das Hauptarchiv sich jedoch im Stadium der Recherche befand und Publikationen noch nicht in Sicht waren, galt es auch für diese Nazi-Einrichtung, der Wahrheit von Einzelheiten in Hitlers Leben nahe zu kommen, wie schon beim 9. Zeugen zu Hitlers Nicht-Heterosexualität – Hitlers Münchener Freundeskreis von 1913/14 – hervorgehoben wurde.

Dass Thomas Orr sich nach 1945 nicht mehr angehalten fühlte, bei der Publikation seiner Hitler-Biografie propagandistisch zu fälschen, versteht sich von selbst. Er präsentierte Erkenntnisse aus Recherchen und gefundenen Zeugnissen während seiner Arbeit für das ehemalige Hauptarchiv, die er zwar verschweigt, aber er kommentierte die Ergebnisse seiner früheren Tätigkeit keineswegs Hitler-apologetisch, sondern Fakten-adäquat.

Orr hat als historische Quelle daher einen Vorzug, den kein anderer Hitler-Biograf mehr haben konnte. Orr war mal innen. Er ist kein üblicher Hitler-Biograf von außen, der nur noch mit dem vorlieb nehmen muss, was übrig geblieben ist.

Orr befand sich zehn bis zwanzig Jahre vor seiner Publikation von 1952/53 in der günstigen Lage, in die Vollen gegriffen zu haben. Wenn es eine Steigerung von Otto Wageners aus nächster Nähe und Karl Wilhelm Krauses Tag und Nacht geben kann, dann müsste es auf Orr gemünzt heißen: Hitler von innen.

Dass Thomas Orr wirklich ein Mitarbeiter des Hauptarchivs der NSDAP war, kommt aus der Präsentation seiner Belege heraus, die 1952 nur ein ehemaliger HA-Insider haben konnte. Orr hatte sie während seiner Tätigkeit vorsorglich als Fotografien, Abschriften oder Notizen in seinen Besitz gebracht. Orr war ein Doppelagent in eigener Sache – einerseits tätig für das oberste Nazi-Archiv, andererseits für seine eigene Zukunft nach einem absehbaren Ende des Staatsterrorismus sorgend.

Es handelt sich bei Orrs Raritäten um Zeugnisse oder Berichte von Vorgängen, die heute noch in den Hauptarchiv-Materialien des Bundesarchivs Berlin vorhanden sind. Zum Beispiel erwähnt Orr in Einzelheiten die ungewöhnlich teure Transaktion eines Hitler-Bildes, das das HA zurückkaufen wollte. (Orr, Nr. 46 v. 15. 11. 52, S. 38, BAB, NS 26/19–33, Folio 28, Bl. 3/4) Orr nennt den Namen des Drogisten und Seifenhändlers Schnell, der in Hitlers erster Münchener Wohngegend 1913/14 Schleißheimer Straße sein Geschäft hatte und ebenfalls zu den Hitler-Bilder-Käufern oder -Vermittlern gehörte. Orr hatte für seine Recherchen Schnell kontaktiert. Der Münchener Hitler-Bekannte erscheint tatsächlich in den Korrespondenzen des Hauptarchivs auf der Suche nach originalen Hitler-Bildern. (Orr a. a. O., S. 39, BAB a. a. O., Folio 24, Bl. 7/8)

Solche Konkreta konnte 1952/53 nur ein ehemaliger HA-Insider präsentieren. Denn der Hauptarchiv-Bestand war nach 1945 in Kisten Kriegs-unversehrt geblieben und erst einmal unter die US-Hoheit genommen und im Berlin Document Center archiviert worden, bis die Hoover-Stiftung ihn mikroverfilmt und die Originale in den 1960ern der Bundesrepublik Bonn damals für das Bundesarchiv Koblenz zur Verfügung gestellt hat. (Hoover, AMORO)

Als 1952 noch nicht aufgedeckter Eingeweihter ist Orrs Zeugnis zur Braun-Hitler-Beziehung deshalb so authentisch wie die Taxierung anderer Zeugen: das Verhältnis zwischen Braun und Hitler = platonisch! Orrs Einschätzung »keine Liebesgemeinschaft« heißt mit damaligen Worten: kein sexuelles Verhältnis.

Zur Erforschung Hitlers von innen hatte Orr auch Gespräche mit Hitlers nahesten Außenstehenden geführt, wie er in seiner Untersuchung über Hitlers Münchener Einstiegszeit 1913/14 nachweist.

Auch für sein Diktum »keine Liebesgemeinschaft« muss er sich mit echt Eingeweihten ins Benehmen gesetzt haben. Denn das Verdikt »keine Liebesgemeinschaft« streicht sogar »Liebe« aus – den Oberbegriff für alle Emotionen.

Braun-Hitler = ohne Liebe – so etwas konnten nur die Nahesten der Nahen erfahren haben.

Orrs Zeugnis deckt sich mit den Wahrnehmungen Hoffmanns (1.), Schwarz’ (2.), Schroeders (3.), Döhrings (5.), Junges (11.), Brandts (12.), Blaschkes (13.), Plaim-Mittlstrassers (14.) und Wolfs (16.). Und mit seiner Verschärfung, »der Berghof war für Eva ein luxuriöses Gefängnis« gießt Orr Wasser auf die Mühlen von Heinz Linges Aussage (6.), Eva Braun sei »als Bettgenossin« Hitlers zu einem »entsagungsvollen Leben verurteilt« gewesen. In ein »Gefängnis« kommt auch »frau« meist nach einer Verurteilung und muss dann allem Kommunikativ-Sexuellen entsagen.

Orrs im Eingangszitat erwähntes Braun-Hitler-Foto, das er auf dieselbe Seite neben die Einschätzung der Eingeweihten setzen ließ, das Verhältnis zwischen Braun und Hitler sei nur eine »Lebensgemeinschaft«, aber keine »Liebesgemeinschaft«, dieses Foto stellt das Gleiche dar, das Schroeder, Blaschke, Plaim-Mittlstrasser, Wolf und Misch beobachtet haben: zwischen Hitler und Braun niemals eine Verliebtheits-Anwandlung am Tage oder eine Gemeinsamkeit des Nachts wahrnehmen zu können = Hitler an Braun eigentlich nicht interessiert, das Ganze ein »Scheinverhältnis«.

Hitler steht steif da. Keine Geste der Nähe zu Eva Braun kommt von ihm. Braun presst sich an ihn und lächelt fotogen, Schauspielerinnen-gekonnt. Aber nur ihre linke Hand lugt in Tuchfühlung mit Hitler ins Bild. Seine sieht man nicht, die wahrscheinlich starr runterhängt, an seinem nach unten gestreckten rechten Arm. Hitler hält es nicht einmal für nötig, für den Schnappschuss eine Regung der Nähe zu Eva Braun zu zeigen. (Orr, Nr. 40 [1952], S. 5)

Dass Orrs authentische Informationen im Gestrüpp einer Hausfrauen-Illustrierten versteckt sind, darf die Hitler-Biografik nicht weiterhin davon abhalten, sie zu rezipieren. Kein deutscher Buch-Verleger konnte unmittelbar nach 1945 eine Hitler-Biografie von einem ehemaligen Mitarbeiter des Hauptarchivs der NSDAP veröffentlichen. Die Bundesrepublik Bonn stand 1952 noch unter der Kontrolle der Alliierten. Der Alliierte Kontrollrat fungierte von 1945 bis 1948.

Doch auch ab 1949 war die Kontrolle längst noch nicht aufgehoben worden, sondern an die Alliierte Hohe Kommission der drei Westmächte übergeben worden, die erst mit den Pariser Verträgen von 1955 ihre Funktion einstellte. Auch danach war die BRBonn nicht vollständig souverän. Sie wurde von den Westmächten weiter beobachtet und kontrolliert – die DDR durch den Ostalliierten, die Sowjetunion.

Diese Kontrolle war nicht nur eine politisch-verwaltungstechnische, sondern auch eine ideologische. Wer was in den Gedanken-Umlauf der westdeutschen Nach-Nazi-Gesellschaft bringen durfte, das wurde von außen beobachtet, wenn nicht sogar entschieden. Verleger bekamen erst allmählich die Berechtigung zurück, Bücher publizieren zu können. Thomas Orr musste entweder warten oder sich in den dezentrierenden Bild-Text-Wildwuchs einer Hausfrauen-Illustrierten begeben und sein Manuskript zwischen Werbungen und Klatsch-Informationen und damit Ablenkungen aller Art platzieren – in Vergeltung für die einstmals tödlich irreführende politische Nazi-Reklame, für die Orr im weitesten Sinne tätig war und von der sein ehemaliger Chef Adolf Hitler extrem viel hielt. (Hitler 33, S. 200 ff., 376, 401 f.)

Aber jetzt sind über 60 Jahre ins Land gegangen. Orrs Mitteilungen sollten endlich das Quellen-Zertifikat verliehen bekommen, als befänden sich seine Hitler-Dokumentationen und -Erläuterungen zwischen den anständigsten Buchdeckeln der Welt.

Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland

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