Читать книгу Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland - Volker Elis Pilgrim - Страница 54
Das »Kunst«gewerbe »des Weglassens«
ОглавлениеWie präsentiert man einen Mann, der – auch für jeden Hitler-Biografen belegtermaßen ersichtlich – auf sexuellem Gebiet von der Norm abwich, als stinknormalen Hausherrn mit Zubehör-Weib?
So tat es Volker Ullrich in seiner zweitjüngsten, immer noch aktuell frischen, Zeugnis-überquellenden 1100 Seiten langen Hitler-Gesamt-Biografie von 2013 (erster Teil) – Englisch 2016: Man lässt von dem »Trauermarsch« der Anti-Hetero-Zeugen, den bisher 23 vorbeidefilierten Daumen-Runter-Haltenden, als Erstes einfach 15 weg.
In Ullrichs zwei Kapiteln zu Hitlers Heterosexualität, Hitler und die Frauen und Die Berghof-Gesellschaft, und in den zwei Jugend-Abrissen Die Wiener Jahre und Das Schlüsselerlebnis des Krieges kommen nur acht Nein-Zeugen zu Wort: NSDAP-Schatzmeister Schwarz (2.) = »platonisch« (Ullrich, S. 918, Anm. 108), Sekretärin Schroeder (3.) = »Scheinverhältnis« (S. 321), Auslands-Spezialist Hanfstaengl (4.) = »impotent« (S. 911, Anm. 4), Berghof-Hausverwalter Döhring (5.) = »keine Bett-Spuren« (S. 689), Jünglings-Intimus Kubizek (7.) = »Asket« (S. 54), Co-Meldegänger Brandmayer (10.) = »Klosterbruder« (S. 76), SA-Finanz-Spezialist Otto Wagener (19.) = »Überwindung« des Sexualtriebs (S. 322), Duzfreund und erster »Leibfahrer« Emil Maurice (22.) = »kein Geschlechtsverkehr mit Liebschaften!« (S. 305).
Zwischen einer und drei Zeilen werden von Ullrich zu jedem Zeugen gebracht, manchmal steht nur ein Wort da – in einem 1100-Seiten-Buch über Hunderte Seiten ohne Zusammenhang verstreut, mit Seite 54 anfangend, der ersten Erwähnung des Problems, bis zu Seite 918 im Anmerkungsapparat – hier nicht einmal im Text.
Ullrichs zwei Mitteilungen der negativen Bewertung von Hitlers Sexualität durch Schwarz (2.) und Hanfstaengl (4.) unter den Anmerkungen zählen wie nur halb, da viele Leser von Ullrichs riesigem Konvolut es nicht bis zum Studium jeder Fußnote schaffen können. Damit schrumpfen die acht auf sieben.
Und Otto Wagener (19.) mit seiner brisanten Wiedergabe von Hitlers verschlüsseltem Bekenntnis, nie den spezifisch männlich-sexuellen, phallisch-vaginalen Eindrangs-Trieb gehabt zu haben, wurde unter den Seitenzahlen im Personen-Register vergessen. Dann ist diese Passage für den Querleser und Überflieger unauffindbar – macht lediglich sechs Neins. Die Zahl der von Ullrich weggelassenen Neins steigt dadurch auf 17, die – wie sich noch ergeben wird – längst noch nicht alle erreichbaren Zeugen sind. Die Neins werden im Laufe der Untersuchung zu Hitlers Heterosexualität auf über 40 steigen.
Die Ullrich’sche Schieflage bedeutete nichts, wenn es nicht um etwas Jahrhundert-Essentielles ginge – um die Erkrankung des umfänglichsten Zerstörers der Welt an der Reagibilität seines speziellsten Organs, das und dessen kommunikative Tätigkeit Sitten-dogmatisch nicht bei Tisch und in Gesellschaft benannt, geschweige denn von früh an erforscht werden darf. (Und kein Protest von Sexualwissenschaftlern gegen diese Strangulierung von Forschung und Lehre!)
Das Häuflein der sechs/acht Aufrechten zum Thema Hitlers abartige Sexualität ist in Ullrichs Hitler-Biografie von keinem noch so sexual-bezüglich interessierten Lesenden in einen Zusammenhang zu bringen, der jemals in dem Aha münden könnte: Ach so, Hitler = serienkillend Orgasmus-defekt.
Besonders die weggelassenen 15 Zeugen wider die sexuelle Normalstatur Adolf Hitlers erlaubten es Ullrich, Hitler den Normalmann-Anzug maßgeschneidert anzupassen. Das wiegt schwer, weil Ullrich – mit zwei Ausnahmen – alle übrigen 13 Nein-Zeugen und ihre Bemerkungen kennt und sie trotzdem bei seiner Beschäftigung mit Hitlers Sexualität nicht zu Wort kommen lässt. Erst wenn Ullrich die 15 Gemiedenen vorgehalten werden, tritt sein Verfahren der Aussparung deutlich hervor, mit dem er es sich erlauben konnte, den Weg in die sexuelle Abnormität Hitlers nicht gehen zu müssen.
Erstens: Hoffmann (1.) – Es beginnt sogleich mit dem ersten Zeugen, dem Stifter des Braun-Hitler-Verhältnisses, Fotograf Heinrich Hoffmann, der von Ullrich um die 40-mal herangezogen wird – nicht mit Hoffmanns heterosexuellem Todesurteil, Hitlers Verhältnis zu Eva Braun »war immer ein platonisches«. Wegen Hoffmanns Wort »immer« hätte die Akte über Hitlers Heterosexualität eigentlich geschlossen werden können. Gerade Ullrich muss vorgeworfen werden, dass er dieses Kurz-und-Bündig-Ergebnis zu Hitlers nicht-existierender Heterosexualität für weitere unabsehbare Jahre Hitler-Forschung verhindert hat.
Zweitens: Linge (6.) Bei Ullrich fehlt ausgerechnet eine der Zeugen-Hauptfiguren – Hitlers zweiter Leibdiener Heinz Linge – mit ihrer Einsicht über Eva Brauns Schicksal an Hitlers Seite: »als Bettgenossin ein entsagungsvolles Leben.« Diese fünf Wörter sind so einprägsam wie Döhrings »unbefleckte Laken«, erst recht Linges Stabbruch über »Hitlers Verhältnis zu Eva Braun«, das »eindeutig unnormal« gewesen sei. Anstatt Linge aus dem Buch Hitler zu zitieren, widmet sich Ullrich dem »Widerrufs-Linge«, (Ullrich, S. 689) den er zum Ja-Sager umpolt, dieser Vorgang bekommt in AMORO eine ausführliche Behandlung (2. Ja-Sager).
Ullrichs sechsmal Ja – das hält die Waage mit Ullrichs Sechs-Komma-Zwei Neins (sechs im Text, zwei in den Anmerkungen). Und schon steht der heterosexuelle Hitler Kerzen-gerade da.
Drittens: Hanisch (8.) – wesentlich wegen Hanischs Hinweis auf Hitlers Mädchen-Phobie schon als 10/11-Jähriger.
Viertens: Das Münchener Freundes-Kollektiv von 1913/14 (9.): »Nie Damenbesuch!«
Fünftens: Junge (11.) – Das Braun-Hitler-Verhältnis habe »nichts mit Erotik zu tun« gehabt. Wieder, wie bei Hoffmann, wird ein Beiwort benutzt, das Endgültigkeit beansprucht. Bei Hoffmann ist es »immer platonisch«, bei Junge »nichts mit Erotik zu tun«. Ende der Diskussion, was Ullrich verhindert.
Sechstens: Brandt (12.) – Die Braun-Hitler-Beziehung sei ein Versorgungs-Arrangement gewesen und keine romantische Liebe.
Siebentens: Blaschke (13.) – 14 Jahre keine Geste, keinen Liebes-Blick gesehen.
Achtens: Plaim-Mittlstrasser (14.) – Nie etwas emotional Du-Harmonisches wahrgenommen und niemand wusste, wo Hitler »eigentlich geschlafen« hätte.
Neuntens: Schaub (15.) – Seine Auswalzung der »wartenden« Eva, der »oft Enttäuschten« mit der »inneren Leere« in ihrem Leben.
Zehntens: Wolf (16.) – Hitler war an Eva Braun gar nicht interessiert, wollte sie beim Kriegführen nicht in seiner Nähe haben. In die Wolfsschanze durfte sie nie kommen. Und in den »Führer«-Bunker unter der Reichskanzlei hat sie sich Hitler für die letzten Untergangs-Wochen im April 1945 aufgedrängt.
Elftens: Krause (17.) – Es gab »kaum Gelegenheit« zum Sexualverkehr – heißt: Trotz »Führer«-»Mätressen«-Suite auf dem Berghof war auch da nix mit Geschlechtsakten.
Zwölftens: Misch (18.) – Nie »etwas« bemerkt. Die Erotik fehlte sogar über dem komischen Mann-Frau-Seit-an-Seit. »Die Musi spielte« auf dem Berghof erst, wenn Hitler weg war.
Dreizehntens: Orr (20.) – Alle Eingeweihten wussten es: Braun und Hitler hatten keine »Liebesgemeinschaft« miteinander. Das ganze Dokumenten-Refugium über Adolf Hitler im Gestrüpp der Münchener Hausfrauen-Illustrierten Revue kennt Ullrich nicht. Und dieses Versäumnis begeht er, obwohl Orr bei Ullrichs größtem Vorläufer, Ian Kershaw, mehrmals vorkommt.
Vierzehntens: Scholten (21.) – die Gynäkologen-Quelle zu Eva Brauns Hitler-Phallus-vakanter Vagina.
Fünfzehntens: Kempka (23.) – das Nach-45-Interview mit dem Verdikt, Eva Braun wäre »die unglücklichste Frau Deutschlands« gewesen und das über ein Jahrzehnt lang, wonach wiederum die Hitler-Hetero-Akte hätte geschlossen werden können.
Die gesamte englische TV-Dokumentation Adolf and Eva von Marion Milne (2001), in der auch das Statement von Hitlers ehemaligem »Leibfahrer« Erich Kempka vorkommt, enthält zu viele Hinweise auf Ungereimtheiten in Bezug auf Hitlers Heterosexualität, (Milne) sodass Ullrich sie links liegen lässt, sie nicht im Einzelnen oder gar nicht kennt, auf jeden Fall nicht erwähnt, weil er sie seiner Darstellung eines heterosexuell normalen Hitlers nicht in die Quere kommen lassen will.