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ОглавлениеAn einem historischen Ort
29. August 1989
Vor einem der Eingänge zur Deutschen Botschaft staut sich seit Wochen Tag für Tag eine riesige Schlange von Russlanddeutschen, für deren Ausreise sich unser noch amtierender Botschafter Meyer-Landrut die Jahre über eingesetzt hat. Wir gehen etwas beklommen an den Menschenmassen vorbei, um uns in der Verwaltung offiziell anzumelden und allerlei Papierkram zu erledigen, damit wir zeitnah unser Dauervisum und unsere Diplomatenpässe bekommen. Wir erhalten eine „Sprawka“, eine amtliche Bescheinigung, als Ausweisersatz, sowie Einkaufscoupons für den Berioska und Benzincoupons. Die 100 Rubel, die ich als Pfand hinterlegt habe, erhalte ich bei meiner Versetzung nach Deutschland zurück, doch wozu dieses Pfand dient, bleibt mir eine Rätsel. Vielleicht ist das einfach eine Vorschrift des UPDK. Dabei fällt mir ein, dass wir bisher noch keine einzige Tankstelle gesehen haben. Sprawkas, die man sich für alles Mögliche ausstellen lassen muss, sind von den sowjetischen Behörden ausgestellte, natürlich zuvor in geschliffener Diplomatensprache beantragte lebensnotwendige Schriftstücke, auf die alle hier lebenden Ausländer angewiesen sind; ohne sie läuft gar nichts! „Der Ausländer gilt in der UdSSR heute immer noch als eine besondere Sorte Mensch“, heißt es in einem Beitrag der Bundesstelle für Außenhandelsinformation. Genau deswegen muss sich dieser Menschenschlag auch der Rundum-„Betreuung“ durch besondere sowjetische Behörden fügen.
Den Rest dieses Tages haben wir frei. Wir fahren ins Stadtzentrum und genießen dort zum ersten Mal vom fast menschenleeren Roten Platz aus den Blick auf die Kreml-Gebäude, die Basilius-Kathedrale, das Warenhaus GUM. Ich spüre, wie mir vor Rührung fast die Tränen kommen - überwältigt in diesem Moment von diesem historischen Ort. Um 16 Uhr werden wir Zeugen des Wachablösungsrituals vor dem Lenin-Mausoleum. Im GUM, in dem etliche Geschäfte geschlossen sind und die geöffneten oft nur sehr wenige Waren anbieten, versuchen hin und wieder einige Menschen, uns Souvenirs gegen Devisen anzudrehen oder uns zum Schwarztauschen zu überreden.
So eine illegale Devisen-Transaktion würde, falls man uns dabei beobachtete und diesen Vorgang über die Miliz an die Botschaft leitete, bei strenger Auslegung zur sofortigen Ausreise führen. Wer will das schon riskieren! Das hieße nämlich auch: nie mehr Roter Platz; keine schöne Vorstellung.
Um 22 Uhr sind wir auf Vermittlung von Sabine und Michael, die beide an der Deutschen Schule arbeiten und aus Lübeck kommen, am Prospekt Vernadskowo verabredet, um die Wohnung zu besichtigen, die uns ursprünglich zugewiesen worden war, was allerdings bis heute nicht umgesetzt werden konnte, da die derzeitigen Mieter ihrerseits auf eine ihnen schon vor langer Zeit zugewiesene Wohnung warten, die immer noch von Mietern bewohnt werden, die seit langem darauf warten, in die ihr zugewiesene Wohnung umzuziehen. Man ahnt es schon: Dieser Satz hat ein offenes Ende. Obwohl für alle beteiligten Parteien seit Wochen die konkreten Umzugstermine feststanden, hat sich nichts bewegt. Wer zuletzt einreist, wird vorübergehend in Übergangsquartieren geparkt. In den Unterlagen der Botschaftsverwaltung liest man: „Die Wohnung, die Sie endgültig beziehen, wird vor Ihrem Einzug renoviert. Die Wohnungen sind meist leider noch nicht fertig, wenn Sie in Moskau eintreffen. Das UPDK arbeitet langsam. Die meisten von Ihnen müssen sich daher einige Wochen gedulden. In selteneren Fällen verlängert sich die Wartezeit auf Monate.“
Immerhin hat der rumpelnde Lift uns mühsam bis in die 16. Etage befördert. Vollgepinkelt ist er nicht. Folglich wohnen in diesem Haus keine Araber. Nur schleppend schieben sich die Fahrstuhltüren auseinander. Wir sind ganz oben angekommen und sehen in der einsetzenden Dunkelheit aus dem Treppenhausfenster um uns herum nichts als die gleichen sechzehnstöckigen Hochhäuser, wahrscheinlich mit den gleichen rumpelnden Lifts. Als wir deutlich nach Mitternacht auf dem Rückweg sind, denken wir: Irgendwie haben wir uns an unsere Übergangswohnung schon gewöhnt; ja, wir fühlen uns fast schon heimisch dort.
Die Kinder dürfen wir gern jederzeit allein lassen. Sie fühlen sich sicher, das Haus werde ja bewacht.