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ОглавлениеHochzeit auf den Leninhügeln
17. September – 21. September 1989
Heute, am Sonntag, packen wir viele weitere Kisten aus, trauen uns aber nicht, die leeren Kartons vom Balkon aus in den Hof zu entsorgen. Obwohl es uns in den Fingern juckt, falten wir sie stattdessen ordentlich zusammen und verstauen sie im Einbauschrank unter der Flurdecke. Frau Bach lädt uns zur Entspannung zum Kaffee ein und plaudert ein wenig über ihre Erlebnisse in Gabun, wo sie zuvor eingesetzt war. Man könne sich überhaupt nicht vorstellen, was für Zustände dort herrschten. Allein über die allgegenwärtige Korruption könne man stundenlang Storys erzählen.
In den nächsten beiden Tagen tauschen wir in der Botschaft einige Sprawkas gegen die inzwischen eingetroffenen Originaldokumente: die Visa und die sowjetischen Führerscheine. Für die Kinderausweise muss nachträglich noch ein weiteres Formblatt ausgefüllt werden.
Bei dem warmen, klaren Herbstwetter machen wir Halt an den Leninhügeln - manche sagen auch Sperlingsberge dazu - die fast so hoch sind wie Segeberger Kalkberg, der immerhin 91 Meter misst. Von dort oben blickt man auf die ganze Stadt. Vor uns, unten am bewaldeten Hang, schlängelt sich die Moskwa entlang, dahinter erstreckt sich der Luschniki-Sportpark, wo 1980 die Olympischen Sommerspiele stattfanden, in abgespeckter Form, weil viele Staaten, auch die Bundesrepublik Deutschland, wegen des Einmarsches der Sowjetarmee in Afghanistan 1979 die Spiele boykottiert hatten. Rechter Hand stehen zwei Skisprungschanzen mit Ganzjahresbetrieb. Im Sommer hebt man von einem Kunststoffbelag ab und fliegt der Stadt entgegen. Das ist bestimmt ein erhabeneres Gefühl, als von der Berg-Isel-Schanze in Innsbruck direkt über einen Friedhof zu fliegen. Auch heute nutzen etliche Springer die Sommerschanze. Andere Sportbegeisterte sprinten mit Langlaufskiern durch die Gegend, die wohl auf Sommerbetrieb umgerüstet sind. Wir sehen auch Schlittschuhläufer mit speziellen Rollen unter den Kufen. Etwa zweihundert Meter hinter uns ragt wie eine Kathedrale das Hauptgebäude der Lomonossow-Universität empor, fast von überall in der Stadt aus sichtbar wie ein Wahrzeichen.
Dieser Aussichtspunkt ist vor allem deswegen so schön, weil hier immer das Leben pulsiert. Dies ist der magische Ort, den täglich Brautpaare ansteuern. Hier steigen manchmal sogar mehrere Paare zur gleichen Zeit aus ihren geschmückten Tschaikas, die sie für diesen Tag geliehen haben. Diese schwarzen Limousinen, vergleichbar mit amerikanischen Straßenkreuzern, sind mit bunten Schleifen verziert, überdimensional große, in sich verschlungene Eheringe mit Glöckchen, die während der Fahrt ständig bimmeln, sind auf der Frontstoßstange oder auf dem Dach befestigt, manchmal auch ein imposanter weißer Schwan. Die Hochzeitsgesellschaft, meist in Begleitung eines Musikers, ist mit Flaschen und Gläsern gut ausgerüstet, die auf der breiten Brüstung am Aussichtspunkt abgestellt werden. Dann verweilt man hier ein halbes Stündchen, lässt das Brautpaar immer wieder mit einem ausgebrachten Toast hochleben, tanzt und singt und dokumentiert alles mit Fotoapparaten: für kurze Zeit Lebenslust pur!
Auf dieser Anhöhe, nur wenige Meter entfernt, besuchen wir die kleine Friedrich-Joseph-Haass-Kirche während des laufenden Gottesdienstes, eines der wenigen Gotteshäuser, das wieder „arbeitet“, das also offiziell im Zuge der Perestroika wieder für die Gläubigen geöffnet werden durfte. Wir treten ein in eine ganz andere Welt. Der liturgische Singsang der orthodoxen Priester und der glasklare Gesang eines Frauenchores nehmen uns gefangen. Lange Zeit hören wir zu und verfolgen, was sich hier abspielt. Die Kirche ist gut gefüllt, fast ausschließlich mit älteren Frauen, die Kopftücher tragen. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen. Einige Frauen verweilen nur für einen kurzen Moment, nachdem sie sich bekreuzigt haben. Andere verharren, ins Gebet vertieft, kurzzeitig vor einer gezielt angesteuerten Ikone. Sitzbänke wie bei uns gibt es hier nicht. Neben dem Eingangsbereich stehen Tische, einige wenige Stühle und ein Samowar. Auf den Tischen wickeln Mütter ihre Babys. Der gesamte Innenraum, erfüllt von Weihrauchduft, reich geschmückt mit Ikonen und Gemälden mit christlichen Motiven, wirkt gemütlich. Überall stehen brennende Kerzen.
Friedrich Joseph Haass ist auch der Namensgeber unserer Schule. Sie heißt seit einigen Monaten: Deutsche Schule Moskau – Friedrich Joseph Haass. Der deutsche Arzt wirkte von 1806 bis zu seinem Tod im Jahre 1853 in Moskau. Als langjähriger Chefarzt der Moskauer Gefängnisspitäler kämpfte er unermüdlich für Hafterleichterungen der Gefangenen. So setzte er zum Beispiel durch, dass die nach Sibirien verbannten Häftlinge in dieser kleinen Kirche ein letztes Mal den Gottesdienst besuchen durften, bevor sie von hier aus tausende Kilometer (zu Fuß!) nach Sibirien marschieren mussten. Und er setzte durch, dass der Umfang der eisernen Fußfesseln der Gefangenen so vergrößert wurde, dass Fußgelenke und Schienbeine nicht mehr so schnell blutig gescheuert werden konnten. Die Eisenketten musste man jetzt so verlängern, dass Trippelschritte nicht mehr möglich waren. Lew Kopelew hat 1984 über das Leben des „heiligen Doktors“ eine Erzählung veröffentlicht. Er war als Ehrengast zu den Feierlichkeiten zur Namensgebung der Schule eingeladen und hat dabei auch sein Buch vorgestellt.
Auf dem Rückweg nach Hause ertappt uns ein GAI bei einem unerlaubten Spurwechsel. Er will den russischen Führerschein sehen und murmelt etwas von einer Motornummer, gibt sich dann aber schnell zufrieden, als ich ihm sämtliche Dokumente vorzeige, die ich heute Morgen von der Botschaftsverwaltung bekommen habe. Die EC-Card lasse ich lieber stecken, damit es nicht zu etwaigen Missverständnissen kommt.
Zu Hause erleben wir vom Balkon aus, wie hinter dem eingezäunten Hofgelände eine größere Gruppe von Ausländerkindern aus unseren Häusern russische Kinder massiv provoziert und anpöbelt. Die Lage eskaliert schlagartig. Steine und leere Flaschen fliegen. Plötzlich hört man eine laute Stimme, und die beiden Gruppen ziehen sich zurück. Die Schlacht ist beendet. Wir machen uns dazu unsere eigenen Gedanken. Gerade Kinder und Jugendliche müssen akribisch auf so einen Auslandsaufenthalt vorbereitet werden und sollten sich jederzeit bewusst machen, dass sie – wie auch ihre Eltern - Gäste in diesem Land sind.
Wir stoßen am Abend das erste Mal in Moskau mit einem Gläschen Rotwein an auf unseren Hochzeitstag.