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ОглавлениеKlare Ansage
27. August 1989
Kaum sind wir in der Luft, sollte - untypisch für diese Jahreszeit - ein heftiges Sommerunwetter mit starken Orkanböen über Norddeutschland hinwegfegen und schwere Verwüstungen anrichten; vor allem in den Ostseehäfen sollten sich Boote übereinander türmen, nachdem der Sturm sie von den Anlegern losgerissen hatte. Wir erfahren erst viel später davon, denn an diesem Sonntagmittag um 13 Uhr hebt unsere Aeroflot-Maschine vom Flughafen Fuhlsbüttel ab mit Ziel Moskau. Unser Abenteuer hat in diesen Sekunden begonnen.
In gut zwei Stunden würden wir in Moskau landen, das erste Mal den Boden des größten Landes der Welt betreten, in der Neun-Millionen-Stadt wohnen, arbeiten, leben - für drei Jahre.
Niemand ahnte zu dieser Zeit, wie rasant sich die politischen Verhältnisse in Europa und in der Welt ändern würden, was natürlich nicht allein daran lag, dass wir heute in die Sowjetunion einreisen und drei Jahre später nicht aus der Sowjetunion, sondern aus Russland wieder nach Deutschland zurückkehren sollten - in ein wiedervereinigtes Deutschland.
Vom Zeitpunkt der Abreise - 9:30 Uhr aus Kiel-Schilksee - bis zum Betreten der Gangway kam zu unserer inneren Anspannung noch jede Menge Stress von außen hinzu: Konvoi-Fahren bei strömendem Regen und dichtem Sommerferienrückreiseverkehr, dadurch viel zu spätes Einchecken, zumal direkt vor uns eine japanische Großfamilie mit Gepäckmassen stand, die anscheinend ihr gesamtes Umzugsgut in aller Seelenruhe am Schalter aufgab. Dann fiel ein Computer aus - natürlich kurz bevor wir endlich dran gewesen wären. In der nächsten Check-In-Schlange war der Computer nur teilweise defekt, so dass die Bordkarten gerade noch per Hand aus dem Gerät gerissen werden konnten.
Folge: Der Abschied von unseren Eltern und von Jörg und Frauke, unseren Freunden, musste auf das Nötigste beschränkt bleiben. Schnell noch zur Handgepäck- und Personendurchleuchtung, ab zum Terminal 17, ein letztes hektisches Winken durch die Glasscheiben, schließlich die Passkontrolle kurz vor 12 Uhr und am Ende klatschnass die Gangway hoch: Für 12 Uhr war der Start vorgesehen.
Und dann saßen wir eine Stunde lang im Flugzeug und warteten. Wir warteten, vorschriftsmäßig angeschnallt, ohne dass es auch nur eine einzige Information gab, aus welchem Grund sich der Start verzögert hatte. Den Mienen des Bordpersonals konnten wir auch keine hilfreichen Informationen entnehmen, wenn es denn überhaupt mal auftauchte. Die ernst und geschäftsmäßig wirkenden Flugbegleiterinnen hatten sich nach der pflichtgemäßen Anschnallkontrolle bis auf weiteres in der Bordkombüse verschanzt. Dann, endlich, ruckelte es kurz und die Tupolew setzte sich in Bewegung, begleitet von einem wie aus dem Nichts einsetzenden, unerträglich lauten Geknarre, fast wie ein Schusswechsel, dazwischen waren menschliche Stimmen zu hören, es klang wie Russisch. Das Ganze kam aus den Bordlautsprechern. Sollte es sich vielleicht um eine Durchsage mit womöglich lebenswichtigen Informationen für die Fluggäste handeln? Wir konnten es nur erahnen. Vielleicht wünschte man uns einfach einen guten Flug. Jetzt waren keine Stimmen mehr zu hören; dafür nahm die Geräuschbelästigung variantenreich zu: Es spotzte, knallte, rauschte, zischte, dröhnte. Eine Life-Schaltung zu den Triebwerken?
Über den Schlechtwetterwolken herrscht endlich Ruhe. Aber unsere innere Anspannung nimmt erheblich zu. Würde das Abholen vom Flughafen klappen? Wo würden wir heute übernachten? Wann würden wir unsere Wohnung beziehen können? Wo befand sich unser Umzugsgut? Das sind längst nicht alle Fragen, die uns durch den Kopf gehen und auf die es noch keine Antworten gibt. Sicher ist auf jeden Fall eines: drei Jahre Deutsche Schule Moskau, für die Kinder, Annika und Ingmar, als Schüler, für Heidi als Ortslehrkraft und für mich als vom Bundesverwaltungsamt Köln - Zentralstelle für das Auslandsschulwesen - vermittelte Lehrkraft.
Beworben hatte ich mich schon 1986 für den Auslandsschuldienst. Es folgten schon bald Vermittlungsangebote, was zunächst heißt, dass man bei einer Zusage einem Auswahlverfahren unterworfen wird: zuerst an die Deutsche Schule Asunción in Paraguay, kurze Zeit darauf an die Europaschule Varese in Norditalien und schließlich, im August 1988, an die Deutsche Schule Moskau.
Eigentlich erhofft man sich schon beim Schreiben der Bewerbung, einst in einem fernen Land mit warmem Klima, mit unendlichen Reisemöglichkeiten - überhaupt mit allen möglichen Freiheiten - zu landen und dort tief in die Kultur einzutauchen. Nun also Moskau. Eigentlich auch ganz interessant. Knackige Winter, aber auch trockene, heiße, wenn auch kurze Sommer. Einige Reisemöglichkeiten, wenn auch stark eingeschränkt und reglementiert. Privilegien für Ausländer statt Freiheiten, dafür aber ein hohes Maß an Sicherheit (dabei denken wir vor allem an unsere Kinder). Und der Kulturbetrieb soll ja staatlich gelenkt sein und nicht gerade bunt und alternativ. Andererseits: Seit Michail Gorbatschow am Ruder ist, hat sich in diesem starren kommunistischen System etwas bewegt. Glasnost und Perestroika sind die Kernbegriffe seiner Reformpolitik, und sowohl der Sympathieträger Gorbatschow als auch seine überzeugende Rhetorik kommen bei uns im Westen gut an. - Wir sagen zu!
Diesen Entschluss haben wir während unserer Moskauer Zeit nicht eine Sekunde bereut!
Zum Vorstellungsgespräch - am 11.11.1988 - luden uns der Schulleiter Dieter Knötzsch und der Vorsitzende des Vereinsvorstandes der Deutschen Schule Moskau, Herr Dr. Schmidt-Volkmar, ins Hotel Airport in Hamburg ein. Vier Tage später dann ein Anruf aus Moskau: Wir sind auserwählt. So kamen Heidi und ich uns in unserer Euphorie in diesem Moment jedenfalls vor. Feierlich und diplomatisch zurückhaltend teilten wir den Kindern bei selbstgemachter Pizza diese Neuigkeit am Abend mit. Von spontaner Freude konnte keine Rede sein. Schockstarre war die erste Reaktion, die sich nur langsam löste und schließlich in eine Kette von Fragen mündete, von denen manche bis zum heutigen Tag, an dem wir uns im Sinkflug unserem Ziel nähern, nur vage oder gar nicht beantwortet werden konnten. Jetzt war es an uns, Annika und Ingmar in den kommenden Wochen und Monaten klarzumachen, dass es nicht unsere Absicht war, sie aus ihrer heimischen Geborgenheit und ihrem Freundeskreis zu entführen.
Schemenhaft unter uns ist eine größere Stadt zu erkennen, vermutlich Moskau.
Bei klarer Sicht und herrlichem Sonnenschein nähern wir uns einem Großflughafen, vermutlich Scheremetjewo. Zuverlässige Bestätigungen von der Crew oder dem Bordpersonal gibt es nicht; aus den Lautsprechern tönt nur unregelmäßiges Rauschen und Knacken. Wenn der Rest der Technik besser funktioniert, werden wir gegen 17:30 Uhr landen. Jetzt ist es so weit: Sanft setzen wir auf, das Landemanöver wird mit einem begeisterten, auch erleichterten Applaus belohnt. Als die Tupolew die Parkposition erreicht hat und die Motoren allmählich verstummt sind, möchte man gerne aussteigen, was nach dreißig Minuten Wartezeit auch erlaubt wird.
Der Bus setzt uns vor der Abfertigungshalle ab. Schade, dass die Tür nur einige Zentimeter zu öffnen ist, dann blockiert sie. Wir passen nicht durch den Spalt. Schließlich erscheint ein Angestellter und öffnet uns triumphierend einen Nebeneingang. Mit unseren vorläufigen Diplomatenpässen müssen wir an den Warteschlangen vorbei zu einem speziellen Schalter gehen. Dort werden sämtliche Passdaten fein säuberlich auf einen weißen Zettel übertragen, den wir auf keinen Fall wegwerfen dürfen, wie man uns zu verstehen gibt. Deswegen hat man ihn uns wohl auch ausgehändigt. Da tauchen plötzlich neben uns Frau und Herr Hartmann auf, die uns die ersten Tage als Betreuer zur Seite stehen, und heißen uns herzlich willkommen. Wir sind nicht nur begeistert und erleichtert, dass die beiden da sind; wir fühlen uns vor allem schlagartig viel sicherer. Auf den Gepäcklaufbändern liegen fast nur Kartons mit HiFi-Anlagen und Keyboards, die von den Einheimischen neuerdings zollfrei eingeführt werden dürfen. Dazwischen entdecken wir unsere Reisetasche - aufgeplatzt, aber offenbar ist nichts herausgefallen. Mit Herrn Hartmanns Hilfe und seinem perfekten Russisch – kein Wunder: er ist Chefdolmetscher an der deutschen Botschaft - kommen wir zügig durch den Zoll.
Wir verlassen das Flughafengelände mit Herrn Hartmanns Dienstwagen. Schon nach wenigen Kilometern passieren wir das offizielle Ortsschild mit der Aufschrift „Moskwa“.
Jetzt sind wir angekommen! Während der Fahrt gibt es jede Menge touristische Kurzinformationen zu Straßen, Plätzen, Gebäuden, Geschäften; auch zum Straßenverkehr (der kaum existiert). Dabei wird das ständige Piepen des Radarwarngeräts im Fahrzeug konsequent ignoriert. Über einer langgezogenen Fensterfront lese ich im Vorbeifahren: „Chudoschestwjennij salon“. Während des Russisch-Kurses im Frühjahr in Bochum tauchte dieses Wortungetüm ständig in den Lektionen auf, ein Zungenbrecher, mit dem die Lehrerin, die übrigens aus Moskau stammte, uns genüsslich quälte. Doch wozu musste man ein Wort wie „Kunstgewerbeladen“ als Anfänger beherrschen? Ich hatte mir damals geschworen, mir diese Vokabel nicht einzuprägen: nicht wichtig für den alltäglichen Sprachgebrauch.
Herr Hartmann parkt vor der Deutschen Botschaft, um sich schnell noch seine „Süddeutsche“ zu holen. Im Auto duftet es angenehm nach Tworog, frischem Quark mit Rosinen, der für uns eingekauft wurde. Wir sind sehr gespannt, wo wir diese Köstlichkeit heute genießen können.
Weiter geht’s, mit den entsprechenden hartmannschen Kommentaren, vorbei an den überfüllten Vorplätzen des Weißrussischen und kurz danach des Kiewer Bahnhofs, vorbei am „amerikanischen Wanzenpalast“, dem Botschaftsgebäude der Amerikaner, auf die Leninberge mit der im Zuckerbäckerstil erbauten Lomonossow-Universität, entlang großflächiger Grünanlagen (wobei von den Kindern die Frage kommt, ob das der Gorki-Park sei) bis zur Ulitsa Wawilowa 83. Ende von Teil 1 der Stadtführung. Hier, in Wohnung 29, gegenüber von Frau Bach und ihrem Sohn Dominik, die uns, kaum dass wir den Flur betreten haben, sofort mit Jever-Pils, Sekt und selbstgebackenem Streuselkuchen empfangen, werden wir vorübergehend untergebracht. Die Kinder tauchen ziemlich bald zum Computerspielen in Sohn Dominiks Zimmer ab. Unser Nachbar Herr Packbier - „wie Pack plus Bier“ - erzählt beim Bier von seiner Arbeit bei Hochtief. Nebenher erfahren wir, was hier angeblich zum Alltag gehört: „Unser Müll ist nicht nur für Russen, auch für die Ausländer eine wahre Fundgrube“ (Frau Bach). „Ich bin kein Rassist, aber die Araber pinkeln in die Fahrstühle, deshalb die kleinen Rinnsale, und die Afrikaner springen auf den Autos rum“ (Herr Packbier). Es ist 22 Uhr, als wir endlich einen Rundgang durch die Wohnung machen. Frau Hartmann weist uns auf eine feuchte Wand im Einbauschrank hin: „Das waren die Japaner“, unsere Vormieter. Schnell noch die erste Kakerlake erledigen, dann noch ein erster heimischer Schluck Wodka aus dem gut gefüllten Kühlschrank und ab auf die Notbetten. Von draußen ist noch reichlich Kinderlärm zu hören - um Mitternacht!