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ОглавлениеStromschwankungen
10. September – 14. September 1989
Unsere Wäsche transportieren wir bisher immer zu Roswitha und Hellmuth in die Dobryninskaja, da wir noch immer keinen Waschmaschinenanschluss haben. Sie hingegen schon. Was sie ihrerseits schmerzlich vermissen, ist ein Herdanschluss, weswegen sie aber nicht täglich zu uns fahren, um dort auf unserem Vierflamm-Gasherd ihr Essen zuzubereiten. Sie begnügen sich mit einem ausgeliehenen Elektro-Notkocher mit einer Kochplatte. Man kann sich leicht vorstellen, dass die beiden nach dem ewigen Eintopf gern mal etwas variantenreicher speisen würden. Dieses einfache Gerät wirkt in der ultramodernen Küchenzeile wie ein Anachronismus, aber es funktioniert.
Aus praktischen Gründen haben wir uns für heute Abend zum Essen im Aragwi, dem angeblich besten georgischen Restaurant, am Sowjetskaja-Platz nahe der Gorkowo Ulitsa angemeldet. Wir hatten wohl besonderes Glück bzw. Geschick, einen Tisch zu ergattern, und zwar im dunklen, gewölbeartigen Kellergeschoss, rundum verziert mit überdimensionalen Wandgemälden. Über uns, auf einer Empore, bietet ein Trio pausenlos georgische Volksmusik in einer Phonstärke, die uns schließlich, bevor wir alle heiser sind, zwingt, zur Zeichensprache überzugehen. Es gibt tatsächlich georgische Vorspeisen, sehr lecker, sehr reichlich, auch reichlich teuer, so dass ich mir von Hellmuth noch diverse Rubelchen leihen muss, um die Zeche zahlen zu können: 243 Rubel. Das ist so viel wie ein durchschnittliches russisches Monatseinkommen! Die Preise, erfahren wir später, liegen deshalb so überdurchschnittlich hoch, weil das Aragwi ein Touristen-Hotspot sei, in den regelmäßig hochrangige ausländische Gäste geführt würden.
Taub, aber dennoch zufrieden, verlassen wir diesen Ort, fahren zurück in die Dobryninskaja, fischen dort unsere fertig gewaschene, aber noch feuchte Wäsche aus der Maschine und fahren anschließend nach Hause. Ein Restaurantbesuch kann bei einer derartigen Beschallung ganz schön anstrengend sein, allerdings auch, so Hellmuth und Roswitha unisono, eine willkommene Abwechslung zu Eintopfgerichten.
Am Abend hören wir, dass in Ungarn etwas Unfassbares geschehen ist. Die Grenze ist geöffnet worden, die hunderten von DDR-Bürgen die Massenflucht in den Westen ermöglicht. Ist der Eiserne Vorhang bald Geschichte?
Am nächsten Morgen klingelt Sergej, unser technischer Hausmeister. Er ist zuständig für die drei dreizehnstöckigen Wohnhäuser unseres kleinen bewachten Ausländer-Compounds. Ohne ihn ist man aufgeschmissen. Er ist ein ruhiger, freundlicher Typ um die Vierzig, mit hellem, schütterem Haar und einer runden, dickglasigen Brille. Jetzt steht er in seinem stets nach Arbeit aussehenden Blaumann vor unserer Tür. Erst kürzlich war ein Elektriker hier, um unser Fernsehgerät anzuschließen. Er lief mehrmals hektisch durch die Zimmer und Hausflure auf der Suche nach einem Sicherungskasten, machte uns auf fließend Russisch klar, dass er da gar nichts machen könne, frühestens im Oktober; es sei nämlich gar kein Anschluss vorhanden. Das ist richtig. Deswegen sollte er laut Absprache der Botschaft mit dem UPDK ja genau deshalb erscheinen, um diesen Anschluss zu legen.
Nun steht Sergej vor der Tür. Er ist gekommen, um diesen Anschluss mittels einer Steckdose herzustellen. Er hat allerdings keine dabei und ist froh, als ich so ein Exemplar aus einer SOFORT-Kiste ziehe, die im Wandschrank lagert und allerlei Elektrokram enthält, den wir vorausschauend in Deutschland genau für so einen Fall eingekauft hatten. Von jetzt an ist Sergej gut zwei Stunden beschäftigt. Schwitzend schon vor Beginn der Arbeit, pendelt er mehrfach zwischen der Anschlussstelle in unserer Wohnung und dem Sicherungskasten im Hausflur hin und her. Spannung ist schon mal vorhanden, eine gute Nachricht. Sie ist an seiner Reaktion abzulesen, als er mit dem angefeuchteten Finger den Draht berührt. Ich möchte, dass Sergej seine Arbeit unverletzt zu Ende bringt und biete ihm sicherheitshalber einen Spannungsprüfer aus meiner Werkzeugkiste an. Nun verschwindet sein Oberkörper im leergeräumten Bücherregal, damit er Drähte kappen und isolieren kann. Dabei entsteht ein Riesendreck. Zwischendurch schaltet er immer mal wieder die Sicherung aus und sofort wieder ein; er hantiert aber am liebsten an den Drähten, wenn sie unter Strom stehen. Dabei schlagen mehrfach kleine Blitze aus dem Regal.
Dann verlässt er ohne Angaben von Gründen für längere Zeit die Wohnung und macht sich einige Zeit später umso entschlossener an die Arbeit. Jetzt wird nur noch der Deckel auf die Dose gesetzt. Genau an dieser Stelle passiert etwas Unvorhergesehenes. Ohne Deckel hat alles Saft, mit Deckel ist der Saft weg. Sergej und ich prüfen nun in der Wohnung sämtliche Steckdosen und Lichtschalter: Alles hat Saft, nur diese eine Steckdose nicht. Das ist interessant. „Für mich auch interessant, ist Phänomen“, wundert sich Sergej auf Deutsch, zeigt auf die Dose und fügt hinzu: „Ist krank!“ Jetzt ist Improvisieren angesagt. Die Wand ist schief, die Dose kann nicht plan eingesetzt werden. Das gleicht der Meister nun durch ein umständlich zurechtgeschnittenes und zurechtgefaltetes Stück Papier aus, das er anschließend zwischen Dose und Deckel platziert. Erwartungsvoll wird getestet: Es funktioniert! Großes Aufatmen bei Sergej und Bravo-Rufe unsererseits. Sergej ist stolz, packt sein Köfferchen und will Feierabend machen. Da erinnert Heidi ihn an seinen zweiten Auftrag. Von der Küche aus soll Strom ins Bad gelegt werden. Sergej gibt freundlich, aber unmissverständlich zu verstehen, er habe heute schon sehr viel gearbeitet und sei erschöpft, was man ihm tatsächlich auch ansieht. Er wolle morgen früh um zehn Uhr an dieses Projekt herangehen. Er fragt, ob die Camel-Packung für ihn sei, steckt sie samt Feuerzeug ein und geht. Erwartungsvoll sehen wir dem nächsten Tag entgegen.
In der Hauspostille, ein mehrseitiges, geheftetes Informationsblättchen, das die Botschaft wöchentlich an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verteilt, lesen wir von einem geglückten finnisch-russischen Joint-Venture: In diesen Tagen hat ein Stockmann-Supermarkt in Moskau eröffnet.
Überraschend ist unsere Waschmaschine angeschlossen worden, der Abwasserschlauch vorerst provisorisch: Es müsse noch ein spezielles Gewinde organisiert werden. Es geht voran.
Auch im Bereich der Dokumente. Die Kfz-Zulassung hat sich plötzlich irgendwo eingefunden und liegt jetzt zur Abholung bereit.