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Auswärts essen

31. August – 4. September 1989

Einige unserer neuen Kolleginnen und Kollegen kümmern sich engagiert um uns und helfen uns, ins Moskauer Alltagsleben einzutauchen. Dabei gibt es jede Menge Insidertipps. Zum Beispiel, was man tun muss, um in einem Restaurant essen zu dürfen. Man kann nicht mal eben, weil man gerade Lust dazu hat, in ein Lokal gehen, sich einen leeren Tisch aussuchen und etwas von einer Speisekarte bestellen. Man fragt telefonisch oder persönlich an, ob es genehm wäre, zu einem bestimmten Zeitpunkt an diesem auserwählten Ort zu speisen. Wenn man persönlich dem Administrator seine Wünsche vorträgt, lässt sich eine zügige Zusage durch eine kleine Zuwendung beschleunigen. Die stets uninteressierte, abweisende Mimik weicht dann schlagartig einer freundlich-distanzierten Eilfertigkeit. Ein kurzer Blick auf ein Stück Papier oder kurzes Verschwinden in den Innenraum, und schon wird unser Wunsch erfüllt. Jetzt geht es in die Details. Was ist im Angebot, wie sieht es mit Getränken aus? Speisekarten gibt es selten, eigentlich fast nie, und wenn es sie gibt, haben sie oft nur dekorativen Charakter, weil das, was dort angeboten wird, in den seltensten Fällen vorrätig ist. Getränke gibt es zwar, aber in der Regel nur Wodka, Mineralwasser, Tee, Kaffee und eine Art dickflüssigen Saft, der farblich und geschmacklich Richtung Pflaume tendiert. Man einigt sich fast immer auf die gleiche Art. Es gibt ein üppiges Vorspeisenangebot - was das genau bedeutet, bleibt weitgehend offen - und wählt eins von zwei, drei Hauptgerichten aus. Wodka- und Wasserflaschen stehen immer auf dem Tisch, Tee oder Kaffee wird nach einer eventuellen Nachspeise am Ende der Mahlzeit gereicht.

Restaurantbesuche sind grundsätzlich jeden Aufwand wert! Wenn man das Lokal betritt, wird man zum bereits gedeckten Tisch geführt, der so überfüllt ist von diversen leckeren Sakuski, den Vorspeisen, dass einem schlagartig das Wasser im Munde zusammenläuft. Nicht ein Quadratzentimeter Platz ist auf dem Tisch, wo wir unsere mitgebrachten Getränke abstellen könnten, in der Regel Wein, manchmal Schampanskoje, den landesüblichen Krimsekt, seltener Bier. Für Wodka und Wasser gilt Selbstbedienung, unsere eigenen Getränke werden wie selbstverständlich vom Personal kredenzt, als kämen sie aus dem eigenen Vorratskeller. Wir lernen schnell. Vorspeisen sind die heimlichen Hauptgerichte, Hauptgerichte eher Sättigungsbeilagen für besonders Hungrige. Desserts hinterlassen selten einen nachhaltigen Eindruck. Was auf jeden Fall haften bleibt, ist die Tatsache, dass die Wassergläser lieber mit Wodka gefüllt werden als mit dem sowjetischen Mineralwasser aus den kleinen 0,3-Liter-Flaschen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass dieses Wasser oft leicht salzhaltig ist oder einen schwer definierbaren, schalen Nachgeschmack hat. Das ist beim Wodka nicht der Fall. Der schmeckt immer gleich gut, und deshalb ist auch Wodka das Nationalgetränk in der gesamten UdSSR, und nicht Mineralwasser.

Die zweite Interdean-Fuhre ist eingetroffen. Die Jungs schlitzen in Windeseile das Verpackungsmaterial auf, schrauben die Möbel zusammen, bringen Lampen an, packen weitere Mangelvorräte aus. Niemand weiß, warum mein Schreibtisch und die fehlenden SOFORT-Kisten nicht dabei sind, hingegen aber Kisten mit der Aufschrift LAGER; die können sie gleich wieder mit nach Deutschland nehmen. Dort nämlich, genauer gesagt in Bonn, befindet sich das Lager, wo die Kisten mit der Aufschrift LAGER für die nächsten drei Jahre gelagert werden müssen.

Zum Schluss kommt das, was Packern am meisten Spaß macht. Vom Wohnzimmerbalkon aus schmeißen sie lustvoll die Kartonreste runter. Die segeln kreuz und quer durch die Luft und verteilen sich weitläufig über den Hinterhof. Nicht so spannend ist die Aufgabe des Packers, der erwartungsvoll unten steht und die Pappe einsammeln muss, um sie in einen Drahtcontainer zu werfen und sie dort zu verbrennen. Großes Beifallsgejohle, wenn einer es schafft, von oben direkt in den Container zu treffen. Wir freuen uns mit ihnen, dass Arbeit so viel gute Laune auslösen kann. Nebenbei wird auch noch wertvolle Arbeitszeit für andere wichtige Aufträge frei und der Spedition das lästige Recyceln erspart.

Um wieder runterzukommen, führen sich alle nach dieser Aktion ein wenig Flüssigkeit zu und genehmigen sich eine Zigarette. Wir dürfen dabei am Erfahrungsschatz der Männer teilhaben. Was die Schwarzafrikaner mit parkenden Autos in den Wohnkolonien hier alles anstellten, sei ein Kapitel für sich; und die Araber und deren Verhalten in Fahrstühlen, darüber wolle man gar nicht erst reden. Und aus Uganda, wo man ohnehin nur mit einer Kalaschnikow ins Bett gehen sollte, habe man seinerzeit den Botschafter aus dem ganzen Chaos rausgeholt. Sei ja sonst niemand dagewesen, um das zu erledigen. Derweil glimmt unten im Hof das Feuer bis zum nächsten Morgen.

Der erste Schultag verläuft wie in einem geordneten Provisorium. Der Regen hat den Schulhof, der die Größe eines Endreihenhausgrundstücks besitzt, in ein Matschfeld verwandelt. Dennoch versuche ich, mit meiner Klasse dort Sport zu treiben, da momentan aus organisatorischen Gründen noch kein Schulbustransfer zu den Sportanlagen, die wir angemietet haben, stattfinden kann. Etwas störend dabei ist der Straßenverkehr, der von der zwanzig Meter entfernten Ringstraße herüberdröhnt. Da kommt sehr schnell die Frage auf, inwieweit Sport im Freien hier tatsächlich der Gesundheit diene. Das Improvisieren ist angeblich nirgendwo so perfekt ausgeprägt wie in diesem Land. Man erlebt das beinahe täglich und sieht sich schnell selbst gezwungen, eigenes Improvisationsvermögen zu entwickeln.

Die bundesdeutsche Schule befindet sich in der ersten und zweiten Etage eines recht heruntergekommenen roten Backsteinbaus in der Ulitsa Tschaikowskowo; gegenüber liegt die streng bewachte amerikanische Botschaft, dazwischen die gut befahrene 18-spurige Ringstraße, die nicht nur enormen Lärm, sondern auch enorme Abgasmengen produziert. (Katalysatoren sind in der Sowjetunion unbekannt.) Die Fenster muss man folglich immer geschlossen halten. Die Treppenstufen, die nach oben in den Schultrakt führen, wirken wenig trittfest. Die Wände in den einzelnen Räumen sind nicht gerade schimmelfrei, die Fenster arg verzogen, die Verglasungen stellenweise leicht trübe, die Holzrahmen rissig. Wenn sich die Fenster überhaupt öffnen und schließen ließen, dann garantiert nur entweder mit viel Gefühl oder brachialer Gewalt. Doch, wen kümmert es, diese Probleme erledigen sich dank der äußeren Einflüsse von selbst. Zu Beginn der Winterzeit müssen alle Fensterritzen gründlich abgeklebt werden, damit Feuchtigkeit und eisige Kälte nicht in die Räume und das Mauerwerk hineinkriechen und vor allem kein Schnee hereinweht.

Annika hat sich inzwischen mit Virginia, einem Mädchen aus Spanien, und zwei weiteren Mädchen, Edda und Anna angefreundet, die aus der DDR sind. Ihr Vater arbeitet hier als Journalist für die Nachrichtenagentur ADN. Die Familie wohnt in unserem Nachbarhaus. Normalerweise sind die Bürgerinnen und Bürger aus der DDR in dem eigens für sie errichteten Compound am Prospekt Vernadskowo untergebracht, dem größten „Ausländerghetto“ im Land.

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