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Aussetzung (»Versetzen in hilflose Lage«) § 221 I Nr. 1 StGB

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In »hilflose Lage« wird ein Mensch »versetzt«, wenn er – unter dem bestimmenden Einfluss des Täters – in eine Situation gebracht wird, in der er sich gegen eine Gefahr für Leben oder Gesundheit, die aus dieser Situation entstehen kann, ohne fremde Hilfe (aus eigener Kraft) nicht zu schützen vermag und solche Hilfe für ihn nicht verfügbar ist (»hilflose Lage« als latent gefährlicher Zustand der »Hilfsbedürftigkeit« ohne verfügbare Hilfe, str. Rn. 68).

Durch das Versetzen in hilflose Lage wird das Opfer der »Gefahr« des Todes (Lebensgefahr) oder einer schweren Gesundheitsschädigung »ausgesetzt«, wenn der Täter durch sein Verhalten eine konkrete Gefahr dieser Art herbeiführt oder erhöht. Die Gefahr(erhöhung) muss auf der »hilflosen Lage« beruhen, in die das Opfer versetzt worden ist (Rn. 69).

Literatur:

Küper, ZStW 111 (1999), 30 ff; NK-Saliger § 221 Rn. 6 ff. Einführend: Hacker/Lautner Jura 2006, 274 ff; Rengier, BT 2, § 10 Rn. 3–12. Monographisch: Lautner, Die Systematik des Aussetzungstatbestands, 2010, S. 31 ff, 64 ff; Wielant, Die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 StGB, 2009, S. 168 ff und passim (jew. mit Hinw. auf weitere Monographien).

Rechtsprechung

Grundlegend: BGHSt 52, 153 (156 ff) mit krit. Anm. Brüning ZJS 2008, 419 (422 f), Hardtung JZ 2008, 953 ff. Beispielhaft: BGH NStZ 2002, 432 (433 – zur Konkurrenz bei nachfolgenden Gewaltdelikten).[1]

Zur hilflosen Lage BGH NStZ 2008, 395: In einer »hilflosen Lage« ist, „wer der abstrakten Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung ohne die Möglichkeit eigener oder fremder Hilfe ausgesetzt ist. Hilflosigkeit … definiert sich danach als das Fehlen hypothetisch rettungsgeeigneter sächlicher Faktoren oder hilfsfähiger (und generell auch hilfsbereiter) Personen.“

Erläuterungen

I. Zur Struktur des § 221 I Nr. 1 StGB

1. Die ursprüngliche »Aussetzung« (§ 221 I Var. 1 StGB a.F.)

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Das 6. StrRG (1998) hat den gesamten Aussetzungstatbestand neu gestaltet. Seine erste Variante – das eigentliche Aussetzungsdelikt – erforderte früher, dass der Täter »eine wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hilflose Person aussetzt«. Die »Hilflosigkeit« kennzeichnete einen Schwächezustand des Opfers, der bei der Tathandlung des »Aussetzens« bereits vorhanden sein und aus den im Gesetz genannten Gründen (Gebrechlichkeit usw.) resultieren musste. »Hilflosigkeit« der Person bedeutete Hilfsbedürftigkeit i.S. von Unfähigkeit, sich aus eigener Kraft, ohne fremde Hilfe, vor Gefahren für Leben oder Gesundheit zu schützen.[2] Das »Aussetzen« wurde fast einhellig so verstanden, dass hierfür eine räumliche Aufenthaltsveränderung des Opfers (»Wegbringen«, »Wegschaffen«) notwendig war, die zu einer konkreten Gefährdung der ausgesetzten Person führte. Dabei war umstritten, ob § 221 StGB a.F. eine Lebensgefahr voraussetzte oder ob auch eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit ausreichte. Die überwiegende Auffassung im Schrifttum verlangte, namentlich wegen der systematischen Stellung des Delikts im Gesetz, eine konkrete Lebensgefahr, während eine erhebliche Minderheitsmeinung mit der ständigen Rechtsprechung die Gefahr eines (jedenfalls schwerwiegenden) Gesundheitsschadens einbezog.[3]

2. »Aussetzung« durch Versetzen in hilflose Lage (§ 221 I Nr. 1 StGB)

a) Die Erweiterung des Aussetzungstatbestandes

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Mit dem 6. StrRG (1998) wurde der Aussetzungstatbestand durch § 221 I Nr. 1 StGB[4] in zweifacher Beziehung wesentlich erweitert. Zum einen ist die – vor der Tathandlung bestehende – »persönliche Hilflosigkeit« des Opfers (wegen Gebrechlichkeit usw.) nicht mehr erforderlich: Die frühere Begrenzung des Opferkreises auf besonders schutzbedürftige Personen ist also zugunsten einer Ausdehnung auf beliebige Aussetzungsopfer entfallen (Erweiterung auf der Opferseite). Zum anderen besteht die Tathandlung nicht mehr notwendig darin, dass der Aufenthaltsort des Opfers »räumlich« verändert wird.[5] Es genügt auch ein »Versetzen in hilflose Lage«, das in beliebiger Weise[6] vollzogen werden kann. Die »örtliche Lage« des Aussetzungsopfers braucht also nicht mehr verändert zu werden. Es genügen sonstige Veränderungen des konkreten Zustandes, die für den Betroffenen eine »hilflose Lage« (zu diesem Begriff Rn. 68 f) schaffen.[7]

Die Erweiterung der Tathandlung – und die mit ihr verbundene Erfolgsmodifikation – entspricht Vorschlägen, die bereits in der Literatur zur Auslegung des § 221 StGB a.F. gemacht wurden, denen aber angesichts der früheren Gesetzesfassung sprachliche Bedenken entgegenstanden.[8] Als typische Begehungsform behält allerdings das »räumliche Aussetzen« (Rn. 65) für § 221 StGB n.F. weiterhin Bedeutung (»verdeckter Ursprungstypus« des Delikts) und beeinflusst die Auslegung des Versetzens in hilflose Lage (Rn. 70).

Begründet der Täter die »hilflose Lage« des Opfers dadurch, dass er sich selbst räumlich entfernt, so wird überwiegend kein »Versetzen« i.S. des § 221 I Nr. 1 StGB angenommen, weil dafür die Alternative des »Im-Stich-Lassens« (§ 221 I Nr. 2 StGB) einschlägig sei, die eine Garantenstellung des Täters voraussetzt.[9] Zum Verhältnis der beiden Tatalternativen Rn. 357 f.

b) Die Gefährdungsstruktur des Delikts

aa) Der Ausgangspunkt

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Die Aussetzung i.S. des § 221 I Nr. 1 StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt (Gefahrerfolgsdelikt). Der Gesetzgeber hat die für § 221 StGB a.F. umstrittene Frage, ob als Erfolg Lebensgefahr erforderlich ist oder Gesundheitsgefahr ausreicht (Rn. 65), durch eine spezielle Gefährdungsklausel entschieden: Das Opfer muss im Ergebnis »der Gefahr des Todes oder einer schweren Gesundheitsschädigung«[10] ausgesetzt werden. Dass damit ein Erfolg in Form der Begründung (oder Erhöhung) einer konkreten Gefahr gemeint ist, folgt trotz der missverständlichen Formulierung des Gesetzes („und ihn … der Gefahr … aussetzt“) aus der seit langem anerkannten Struktur der Aussetzung als konkretes Gefährdungsdelikt.[11]

bb) Das Verhältnis von »hilfloser Lage« und Gefährdungsklausel

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Probleme bereitet das Verhältnis der Gefährdungsklausel zur »hilflosen Lage«, in die das Opfer »versetzt« werden muss. Zum Teil wird angenommen, dass die »hilflose Lage« mit der »konkreten Gefahrenlage« sachlich identisch sei.[12] Dies entspräche dem Sinn, in dem der Begriff »hilflose Lage« oder »hilfloser Zustand« in der Judikatur zum »Aussetzen« i.S. des § 221 StGB a.F. meist gebraucht wurde.[13] Die zusätzliche Gefährdungsklausel hätte dann allerdings nur die Funktion, die Art der Gefahr – als Lebens- oder schwere Gesundheitsgefahr – klarzustellen.

Da das Gesetz indessen das »Versetzen in hilflose Lage« von dem weiteren Erfordernis einer »dadurch« verursachten »Gefahr« trennt und damit zwei verschiedene – durch Kausalität verbundene – Merkmalskomplexe geschaffen hat, liegt eine andere Deutung näher, die inzwischen der h.M. entspricht. Danach ist »hilflose Lage« nicht erst die konkrete Gefahr der im Gesetz bezeichneten Art, sondern ein hiervon qualitativ verschiedener, der Gefahr zugrunde liegender Zustand der »Hilfsbedürftigkeit« oder »Schutzunfähigkeit« des Opfers: »Hilflose Lage« bedeutet einen Zustand, in dem sich das Opfer nicht mehr aus eigener Kraft (mit eigenen Mitteln) – oder durch schutzbereite und -fähige Personen – gegen eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr zu schützen vermag, die aus seiner Situation resultieren kann.[14] Der damit weder identische noch notwendig schon eingetretene Gefahrerfolg wird demgegenüber erst in der Gefährdungsklausel (»und ihn dadurch…«) als Auswirkung dieser Schutzunfähigkeit und weiterer Gefährdungsfaktoren beschrieben. Dabei wird für die »hilflose Lage« überwiegend eine Situation latenter oder potenzieller Gefährlichkeit vorausgesetzt, in der aufgrund fehlender Abwehrfähigkeit des Opfers[15] nach den Gesamtumständen die Entstehung einer konkreten Gefahr zu befürchten ist.[16]

cc) Der Zusammenhang von »hilfloser Lage« und Gefährdung

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Unterscheidet man zwischen der »hilflosen Lage« und dem Gefahrerfolg in dieser Weise, so folgt daraus eine Begrenzung des Tatbestandes: Es genügt nicht jede beliebige Herbeiführung der in § 221 I Nr. 1 StGB bezeichneten Gefahr (kein »allgemeines« Gefährdungsdelikt).[17] Der Gefahrerfolg muss vielmehr spezifisch auf dem hilflosen Zustand des Opfers beruhen. Das Merkmal der »hilflosen Lage« hat in § 221 I Nr. 1 StGB somit die Funktion, die tatbestandsrelevanten – aussetzungsspezifischen – Gefahrenlagen auf solche Gefahrerfolge zu begrenzen, die speziell aus der Situation mangelnder Abwehrfähigkeit des Gefährdeten resultieren, und dabei von sonstigen (»allgemeinen«) Gefahren abzugrenzen (Selektionsfunktion).

Relevant wird diese Abgrenzung bei »Augenblicksgefahren«, wie etwa bei einem Schuss, der das Opfer knapp verfehlt, dem gefährlichen Steinwurf von der Autobahnbrücke oder einem »Beinahe-Unfall« im Verkehr. Da hier der Gefahrerfolg der Tathandlung unmittelbar anhaftet, fehlt es an dem erforderlichen Zusammenhang mit dem hilfsbedürftigen Zustand des Opfers (keine Ausprägung einer »aussetzungsspezifischen Gefahr«). Ein anderer Ansatz geht dahin, für die hilflose Lage eine gewisse Dauer und Stabilität zu fordern, damit aus ihr heraus der weitere Gefahrerfolg erwachsen kann.[18] Die Schaffung der »hilflosen Lage« und der Eintritt der konkreten »Gefahr« können indes auch zeitlich zusammenfallen, sofern der Eintritt der konkreten Gefahr noch Ausdruck der aussetzungsspezifischen Gefahrenlage ist.[19] Beispiel: Der Täter stößt sein Opfer so auf die Straße, dass es hinfällt und deshalb im Liegen sofort von einem Wagen tödlich erfasst wird, dem es sonst hätte ausweichen können.[20]

Ein »Versetzen in eine hilflose Lage« ist auch möglich, wenn sich das Opfer bereits in einer solchen Lage befindet. Beispiel: Der Täter entwendet die Jacke des bereits in klirrender Kälte schlafenden betrunkenen Opfers. Auf eine Unterscheidung zwischen der »Intensivierung« einer solchen Lage und dem Versetzen in eine andere »hilflose Lage« kommt es dabei nicht entscheidend an.[21] Da es zur Verwirklichung des Gefahrerfolgs stets eines von der bereits bestehenden »hilflosen Lage« unterscheidbaren mitursächlichen Beitrags bedarf (»und dadurch«), muss jede »Intensivierung« – soll sie denn tatbestandlich sein – zugleich auch eine neue Gefahr sein, die sich im Gefahrerfolg realisiert (»hilflosere Lage« als »neue hilflose Lage«). Lässt sich in dem genannten Beispiel feststellen, dass durch das Entwenden der Jacke die bereits vorhandene Gefahrensituation gesteigert wurde und gerade diese Steigerung mitursächlich für eine konkrete Lebensgefährdung wird, wäre ein Versetzen in eine weitere hilflose (bzw. „hilflosere“) Lage gegeben.

II. Tathandlung und »bestimmender Einfluss« des Täters

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Aus dem Deliktsursprung als »räumlicher Aussetzung« nach § 221 StGB a.F. folgt auch für die Neufassung, dass dem Täter ein »bestimmender Einfluss« zukommen muss. Beim »Versetzen in hilflose Lage« muss das Opfer daher Objekt der Tathandlung sein. Die bloße Veranlassung des Opfers, sich selbst in eine »hilflose Lage« zu bringen, kann deshalb dann nicht genügen, wenn es sich freiverantwortlich zu der Situationsveränderung entschließt. Anders liegt es, wenn die Veränderung auf der Herrschaftsmacht des Aussetzenden beruht (z.B. durch Gewalt, Drohung, Täuschung).[22]

Unter diesen Voraussetzungen ist das »Versetzen in hilflose Lage« nicht nur durch aktives Tun begehbar, sondern auch durch unechtes Unterlassen i.S. des § 13 I StGB. Beispiel: Der Garant lässt es pflichtwidrig geschehen, dass sich das »defekte« Opfer in eine hilflose Lage begibt und dadurch gefährdet (Nichtverhinderung der »Selbstaussetzung«).[23] Zum Verhältnis der beiden Tatalternativen vgl. Rn. 360.

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