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Befreien eines Gefangenen § 120 I StGB
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Ein Gefangener wird »befreit«, wenn die amtliche Gewalt über ihn trotz bestehenden Haftrechts – auch nur vorübergehend – aufgehoben wird; ein Handeln gegen oder ohne den Willen der für die Ausübung der amtlichen Gewalt zuständigen Personen (»Gewahrsamshalter«) ist nicht erforderlich.
Die Selbstbefreiung des Gefangenen (»Entweichen«) ist als solche nicht tatbestandsmäßig. Das »Verleiten zum Entweichen« und das »Fördern beim Entweichen« stellen zur Täterschaft verselbstständigte Formen der – unmittelbaren – Teilnahme (Anstiftung/Beihilfe) an der Selbstbefreiung dar (Rn. 89).
Täter oder Teilnehmer einer Gefangenenbefreiung (»Befreien«, »Verleiten«, »Fördern«) kann auch ein Gefangener sein. Handlungen eines Gefangenen, die er zu dem Zweck vornimmt, die eigene Freiheit wiederzuerlangen, sind jedoch nach § 120 I StGB weder als Täterschaft noch als Teilnahme strafbar (»erweitertes Selbstbefreiungsprivileg«, im Einzelnen str. Rn. 91).
Literatur:
MK-Bosch § 120 Rn. 17 ff, 31 ff; SK-Wolters, 8. Aufl., § 120 Rn. 6 ff, 12 f. Einführend: L/Kühl § 120 Rn. 6 ff; Otto, BT, § 92 Rn. 4 ff. Monographisch: Helm, Das Delikt der Gefangenenbefreiung, 2010, S. 237 ff, 259 ff und passim.
Rechtsprechung:
BGHSt 17, 369 (373 f – Selbstbefreiungsprivileg); 37, 388 (390 ff – Anstaltsleiter als Täter) mit krit. Anm. Begemann NStZ 1992, 276 f, Zielinski StV 1992, 227 ff; BGH NStZ-RR 2000, 139 (Vollendung).
BGHSt 37, 388 (392): „Unter Befreien ist jede Form widerrechtlicher Aufhebung einer behördlich angeordneten Verwahrung zu verstehen. Besondere Arten oder Mittel der Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolges setzt § 120 StGB nicht voraus. Ein ›Befreien‹ kann daher auch in der Form einer Entlassung aus der Verwahrung geschehen, wobei jedoch rechtsförmliche, von den zuständigen Organen angeordnete Entlassungen grundsätzlich ausscheiden, selbst wenn sie dem materiellen Recht widersprechen.“
Erläuterungen
I. Die Struktur des Delikts
1. Allgemeines
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Nach § 120 I StGB handelt tatbestandsmäßig, »wer einen Gefangenen befreit, ihn zum Entweichen verleitet oder dabei fördert«. Die Befreiung »eines Gefangenen« ist so zu verstehen, dass der befreite »Gefangene« zugleich »ein anderer« sein muss als der Täter: Die schlichte »Selbstbefreiung« des Gefangenen (»Entweichen«) wird vom Tatbestand nicht erfasst; eine »Selbstverleitung« oder »Selbstförderung« ist ohnehin logisch unmöglich. Mit dem Tatbestandsausschluss berücksichtigt das Gesetz in § 120 StGB aus „humanen Beweggründen“[1] den »natürlichen Freiheitsdrang« des Gefangenen und den daraus resultierenden »Motivationsdruck«, d.h. seine notstandsähnliche Lage.[2] Eine »Selbstbefreiung« ist nur und erst unter den zusätzlichen Voraussetzungen der Gefangenenmeuterei (§ 121 StGB) tatbestandsmäßig (dazu Rn. 53 ff und Rn. 873).
Da die Selbstbefreiung tatbestandslos und deshalb keine taugliche Haupttat i.S. der §§ 26, 27 StGB ist, hat der Gesetzgeber die darauf bezogenen Teilnahmehandlungen als »Verleiten« und »Fördern« gesondert vertatbestandlicht und damit formell zur Täterschaft erhoben.[3] Diese Verselbstständigung führt dazu, dass an beiden Alternativen wiederum Teilnahme nach allgemeinen Regeln möglich ist, nicht anders als beim eigentlichen »Befreien«.[4] Inhaltlich entspricht das »Verleiten« der Anstiftung i.S. des § 26 StGB: Es ist Anstiften eines Gefangenen zu dessen eigener – tatbestandsloser – Befreiung (»Entweichen«). Der Begriff ist hier also anders zu verstehen als in § 160 StGB (Rn. 215). Das »Fördern« stellt materiell eine Beihilfe – zur tatbestandslosen Selbstbefreiung – dar. Mit beiden zur Täterschaft verselbstständigten Teilnahmehandlungen kennzeichnet das Gesetz, ebenso wie mit dem »Befreien«, nicht etwa bloße Tätigkeiten, sondern Formen eines Erfolgsdelikts, so dass für die Vollendung auch hier ein kausaler Beitrag zur tatsächlichen Aufhebung der Gefangenschaft – Wiedererlangung der Freiheit – erforderlich ist.[5]
Der Versuch wird in § 120 III StGB für alle i.S. des Abs. 1 tatbestandsmäßigen Verhaltensweisen gesondert unter Strafe gestellt. Nach h.M. ist der Versuch bei den verselbstständigten Teilnahmehandlungen nicht vom Beginn der »Haupttat« (Versuch der Selbstbefreiung) abhängig, sondern nichtakzessorisch nach der jeweiligen Tathandlung zu bestimmen, so dass bereits die »versuchte Beihilfe« und die »versuchte Anstiftung« als Förderungs- bzw. Verleitungsversuch unter § 120 III StGB fallen.[6]
2. Mittelbare Förderung als Täterschaft?
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Schwierigkeiten bereitet die Beurteilung sog. »mittelbarer Förderungshandlungen« wie z.B. der Überlassung von Ausbruchswerkzeug an einen Mittelsmann des Gefangenen, der seinerseits durch die Weitergabe dessen »Entweichen fördert«: Ist solche »Kettenbeihilfe« – die nach allgemeinen Teilnahmeregeln eine Beihilfe zur Haupttat darstellt – bereits ein »Fördern« und damit selbst schon täterschaftlich i.S. des § 120 I StGB? Oder handelt es sich lediglich um (echte) Beihilfe zur Gefangenenbefreiung, d.h. zum »Fördern des Entweichens« (§§ 27, 120 StGB)? Die heute wohl überwiegende Auffassung entscheidet sich für die Teilnahmelösung (Beihilfe): Denn eine täterschaftliche Förderung müsse dem Gefangenen »unmittelbar« geleistet werden. Täterschaftlich sei allerdings die Hilfe, die dem Gefangenen auf dessen Veranlassung geleistet werde,[7] da hier der Unwert dem täterschaftlichen Befreien entspreche.[8]
Für die Teilnahmelösung spricht – neben dem geringeren Unrechtsgehalt bloß mittelbarer Förderungshandlungen (§ 27 II 2 StGB!) und dem Gesetzeswortlaut (»ihn dabei fördert«) – auch der Gesichtspunkt, dass die in § 120 I StGB angeordnete Verselbstständigung von Teilnahmehandlungen nur so weit reichen sollte, wie sie durch das Fehlen einer tatbestandsmäßigen Haupttat[9] (die bei mittelbarer Förderung aber vorliegt!) zwingend geboten ist.[10] Die Teilnahmelösung gilt gleichermaßen für die »Kettenanstiftung«: kein täterschaftliches »Verleiten« bei bloßer Anstiftung einer Person, die den Gefangenen »zum Entweichen verleitet«.[11]
II. Probleme des »Selbstbefreiungsprivilegs«
1. Der Ausgangspunkt
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Trotz der Tatbestandslosigkeit bloßer »Selbstbefreiung« ist § 120 I StGB – als Allgemeindelikt – keine Straftat, die den Gefangenen selbst als Täter ausschließt: Täter des »Befreiens« ebenso wie des »Verleitens«/»Förderns« kann nicht nur ein Außenstehender (Nichtgefangener), sondern auch ein Gefangener sein, wenn sich seine Tathandlung auf einen anderen Gefangenen bezieht: Der Gefangene »befreit« einen Mitgefangenen, stiftet ihn zur Selbstbefreiung an (»Verleiten«) oder unterstützt ihn dabei (»Fördern«). In gleicher Weise ist Teilnahme des Gefangenen an derartigen Tatbestandshandlungen nach allgemeinen Regeln möglich. Probleme entstehen bei der »erweiterten Selbstbefreiung« des Gefangenen, d.h. bei formal tatbestandsmäßigen Handlungen i.S. des § 120 I StGB oder echten Teilnahmehandlungen (z.B. Anstiftung eines Außenstehenden), wenn sie der Gefangene zugleich mit dem Ziel vornimmt, die eigene Freiheit wiederzuerlangen. Kann auf derartige Handlungen das »Selbstbegünstigungsprivileg« angewandt werden, das der tatbestandslosen Selbstbefreiung zugrunde liegt?
2. Rechtsprechung und Literatur
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Die Rechtsprechung hat dies ursprünglich prinzipiell abgelehnt: Zwar sei die von einem Gefangenen „mittels seiner eigenen Tätigkeit bewirkte Befreiung seiner selbst als solche straflos“; dies gelte aber nicht mehr, wenn der Gefangene durch seine Mitwirkung an der Befreiungshandlung einer anderen Person „eine von der bloßen Selbstbefreiung verschiedene selbstständige Straftat“ begehe.[12] Die neuere Rechtsprechung[13] hat demgegenüber das »Selbstbefreiungsprivileg« geringfügig erweitert und erkennt es in engen Grenzen auch bei an sich tatbestandsmäßigen Handlungen des Gefangenen an, die er zwecks Eigenbefreiung begeht. Dafür soll folgende Differenzierung gelten: Bei gemeinschaftlicher Flucht mehrerer Gefangener ist die gegenseitige Unterstützung (»Fördern«), soweit sie jeweils als – notwendiges – Mittel der eigenen Befreiung vorgenommen wird, eine quasi-mittäterschaftliche straflose Selbstbefreiung. Straflos bleiben soll auch die Anstiftung eines (später) mitfliehenden Gefangenen zur Hilfeleistung bei der Eigenbefreiung des Anstifters. Dagegen liege strafbare Anstiftung zu § 120 I StGB vor, wenn der Gefangene einen Dritten dazu veranlasse, ihn zu befreien oder beim Entweichen zu fördern.[14]
Das Schrifttum hält diese Begrenzung nahezu einhellig für zu eng und billigt dem Gefangenen mit Rücksicht auf seine notstandsähnliche Lage das »Selbstbefreiungsprivileg« auch dann zu, wenn er einen Dritten dazu anstiftet, ihn zu befreien oder bei der Selbstbefreiung zu unterstützen.[15] Der Verzicht auf Strafbarkeit, der dem Gefangenen als »Täter« seiner Befreiung zuteil werde, könne ihm als Teilnehmer nicht vorenthalten werden. Vielmehr müsse die Ratio der Straflosigkeit täterschaftlicher Selbstbefreiung wegen der gleichen Motivationslage auch hier gelten. Eine abweichende Lösung laufe auf die Anerkennung der dem geltenden Recht (§ 29 StGB) widersprechenden »Schuldteilnahmetheorie« (Strafbarkeit wegen Verstrickung eines anderen in Schuld und Strafe) hinaus.[16] Die nur »bei Gelegenheit« der Eigenbefreiung einem Mitgefangenen geleistete Fluchthilfe, die nicht mehr eigentliches Mittel der Selbstbefreiung ist, wird allerdings von der Privilegierung überwiegend ausgenommen.[17] Unsicherheit besteht noch darüber, auf welcher Systemstufe das »Selbstbefreiungsprivileg« zu berücksichtigen ist: Entschuldigungs- oder Strafausschließungsgrund, teleologische Reduktion des Tatbestandes?[18]