Читать книгу Der Philosoph - Wilm Hüffer - Страница 10
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ОглавлениеIrgendwann hätten wir offen miteinander sprechen sollen. Kannst du dir erklären, weshalb wir das nicht getan haben? Zweifellos waren wir im Frühjahr aus unterschiedlichen Gründen nach Binsenburg gekommen, sind daraus unsere Missverständnisse erwachsen. Ich bin jedoch überzeugt, dass diese Entwicklung vermeidbar gewesen wäre – sofern du dich nur etwas zugänglicher gezeigt und an deiner Geschichte nicht so verbissen festgehalten hättest. Bis heute muss ich mit den Folgen dieser Uneinsichtigkeit zurechtkommen, setzen manche Leute auf der Binsenburger Allee ein spöttisches Lächeln auf, wenn sie an mir vorübergehen, halten mich noch immer für eine jener zwielichtigen Gestalten, die du in deinen Reportagen beschrieben und von denen du behauptet hast, dass sie den Professor in seinem Exil abgeschirmt und in seinen seltsamen Neigungen bestärkt hätten. Darüber bin ich nicht deshalb so verärgert, weil es dem Ansehen meiner Person abträglich wäre (das berührt mich selbstverständlich nicht im Geringsten), sondern weil es den Blick auf die wahren Geschehnisse verstellt. In aller Bescheidenheit möchte ich feststellen, dass deren Bedeutung kaum jemand verstehen wird, der meine Rolle darin vernachlässigen zu können glaubt. Du wirst auf Dauer nicht ignorieren können, dass ich, anders als du, den wahren Gründen für das Schweigen des Professors auf die Spur gekommen bin. Folglich halte ich den Schlüssel zu den Geschehnissen in den Händen und frage mich, ob du wirklich annehmen solltest, daran so gleichgültig vorübergehen zu können.
Glaubst du noch immer, ich hätte mich mit dem Philosophen vor dir nur aufspielen wollen und sei in Wahrheit hinter einer alten Freundin her gewesen? Hast du wirklich geglaubt, ich sei nur nach Binsenburg gefahren, um Lou dort wiederzutreffen und sie Julian Fleig auszuspannen? Ich habe nicht einmal gewusst, dass die beiden dort waren. Mein einziges Vorhaben bestand darin, den exilierten Philosophen wieder zum Sprechen zu bringen. Ein verzweifeltes Projekt, für das ich dich damals vergeblich zu interessieren versucht habe. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Hinrich Giers von meiner Existenz jemals Kenntnis genommen hatte. Meine Hoffnungen gründeten einzig auf meiner Tätigkeit bei der »Sozialen Gesellschaft«, von der ich hoffte, er könne davon erfahren haben. Als Dr. Lenz mich eingestellt hat, konnte ich mit meinen vierundzwanzig Jahren weder ein Studium vorweisen noch hatte ich jemals philosophische Texte verfasst. Mehr als die Schreibarbeiten, die du mir während der Monate in deinem Büro übertragen hast, hatte ich nicht vorzuweisen. Bis heute weiß ich nicht, was mich in den Augen des Doktors für meine Tätigkeit qualifiziert hat, ebenso wenig, was mich bei der »Sozialen Gesellschaft« erwartete.
Ich erinnere mich einzig an den kleinen Schlag, den ich verspürt habe, als ich im Text der Stellenanzeige auf den Namen des Herausgebers gestoßen bin. Aber das war auch alles, was mit Lou zu tun gehabt hatte. Zugegeben, der Name Hinrich Giers war so etwas wie eine Chiffre für mich gewesen, hatte die Erinnerung an die Trennung von Lou wieder wachgerufen, Verständnislosigkeit und Zorn eingeschlossen. Allerdings wäre es ganz übertrieben zu meinen, dass ich nur deshalb bei Hinrich Giers eine Beschäftigung gesucht hätte (wie du unweigerlich vermuten wirst). Viel zu weit war der Arbeitsalltag der »Sozialen Gesellschaft« von den alten Verletzungen entfernt, als dass ich mir von meiner Beschäftigung irgendeine Art der Aufklärung hätte versprechen dürfen. Allenfalls eine gewisse Faszination habe ich verspürt, nun auch selbst in die Nähe jenes Mannes zu gelangen, dessen geistige Anziehungskraft Lou aus meinem Leben entfernt und dort für so viel Leere und Belanglosigkeit gesorgt hatte. Es mag die Sehnsucht darin verborgen gelegen haben, mich von demselben Schwarzen Loch anziehen zu lassen, das kurz zuvor meine Freundin verschluckt und damit jede tiefere Absicht aus meinem Leben entfernt hatte. Was für eine merkwürdige Aussicht, habe ich damals gedacht, mich aus der Peripherie direkt ins Zentrum meiner Misere zu bewegen.