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Fichtenbuckel 9

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Nicht ohne Grund steht mir unser Wiedersehen auf der Binsenburger Allee so deutlich vor Augen. Ich erinnere mich an die vorgebliche Leichtigkeit, mit der du vor dieser Kulisse herumgetänzelt bist, im Blättersturm des Herbstwinds, scheinbar amüsiert über das, was ringsum zu sehen war. Du wolltest mich die Freude spüren lassen, kurz an den Schauplatz jenes absurden Theaterstücks zurückgekehrt zu sein, an dem du im Frühjahr mitgewirkt hattest. Immer wieder hast du demonstrativ gelacht und mit betonter Lebhaftigkeit auf deinen Begleiter eingeredet, der mir sofort bekannt vorgekommen war. Bald fiel mir wieder ein, dass er zu dem Fernsehteam gehört hatte, das nach Binsenburg gekommen war, um das Fernsehduell zwischen Julian Fleig und dem Professor aufzuzeichnen. Ich weiß nicht, wie du damals an ihn geraten bist und was du an ihm gefunden hast, möchte aber auch gar nicht den Eindruck erwecken, als ob mich das sonderlich interessieren würde.

Verärgert hat mich höchstens die vorgebliche Souveränität, mit der du durch die Allee stolziert bist, eng umschlungen mit dem Fernsehschnösel. Verärgert hat mich, wie du vor mir stehengeblieben bist und den Kopf in den Wind gedreht hast, um das Haar hinter dir flattern zu lassen, die vorgebliche Freude, mit der du, als wir uns unterhielten und er gelangweilt danebenstand, in die Herbstsonne gelächelt hast, natürlich nicht ohne den Schutz einer großen Sonnenbrille. Vermutlich hast du dir deine damaligen Taten vergegenwärtigt und sie später noch einmal wortreich vor dem Fernsehschnösel ausgebreitet, ein erbauliches Thema für einen gemeinsamen Nachmittagsspaziergang unter den rot und golden eingefärbten Linden der Allee, mit der Sicht auf den Felsenkamm des Binsenburger Hausbergs.

Zweifelsohne bietet diese Stadt immer neue Gelegenheiten für das Gedankenspiel, unter prächtig ausstaffierten Attrappen der einzig lebendige Mensch zu sein. Behaupte nicht, es hätte dir kein Vergnügen bereitet, einmal mehr an greisenhaften Männern vorüber zu flanieren, die in senfgelben oder moosgrünen Anzügen herumstaksten und bunte Golfermützen trugen. Noch im Frühling hast du jedenfalls über sie gelacht, als damals wir beide durch die Allee spaziert sind und der Fernsehschnösel noch kein Thema für dich war. Wespen hast du die dürren Greisinnen genannt, die einen Labrador oder Pudel an der Leine führten, ihre Lippen aufeinanderpressten und aus den dunklen Gläsern ihrer Sonnenbrillen, toten Insektenaugen, in die Gegend starrten. Was für eine anachronistische Binsenburger Selbstverständlichkeit, die dürren Glieder derselben Damen jetzt in Pelz gehüllt zu sehen. Man könne, hast du damals gespottet, die begrünte Bühne dieses Bergtals nicht durchwandern ohne das Gefühl, die Gegenwart verlassen zu haben, in eine prämortale Ruhezone gefallen zu sein, deren Einwohner nur noch die erstorbene Hülle von Privilegien spazierentrügen. Natürlich hast du dich weit ordinärer ausgedrückt. Schließlich hatten wir gerade erst das Café Krone verlassen und ziemlich viel Weißwein getrunken. Und es ist ja auch nicht weiter schwer, sich in diesem Garten der Wohlstandsverwahrten zu den einzigen zu zählen, die sich vitaler körperlicher Regungen rühmen können – zumal wir damals ohnehin bereits mit unseren körperlichen Regungen recht intensiv beschäftigt waren.

Ein Fehler war es allerdings, dass du von der exzentrischen Binsenburger Kulisse auf das vermeintliche Siechtum, die innere Verwahrlosung des Philosophen geschlossen hast, der hier Zuflucht genommen hatte. Ein Irrtum, der auch Dr. Lenz nach seiner Anreise unterlaufen zu sein scheint. Offenbar war er bald davon überzeugt gewesen, einen gekränkten Mann von seinem akademischen Totenbett zerren zu müssen. Ich dagegen war im anhebenden Frühling aus dem alten Bahnhofsgebäude getreten, war zum ersten Mal durch die Allee gelaufen (die so ungezwungen, in weiten Biegungen, durch die Stadt führt), und hatte sofort geahnt, dass die Einschätzung von Dr. Lenz auf Unverständnis beruhen musste. Trotz der großen Reisetasche fühlte ich mich unbeschwert, betrachtete die lila blühenden Krokusmatten auf den weiten Rasenflächen, die sanft ansteigenden Hügel zur Rechten und Linken, auf denen hinter den Bäumen weiß getünchte Stadtvillen hervorblickten, schaute durch die herabhängenden, noch kahlen Zweige der Linden auf die wintergrauen Wälder der Berghöhen ringsum – und hatte unmittelbar eine klare Vorstellung, warum sich Hinrich Giers diesen Ort als Exil erwählt hatte. Es war der Mangel an Bestimmung, der ihn gereizt haben musste, die Tilgung der Gegenwart aus dem Gegenwärtigen, das gleichmütige Grün, das sich gegen die Welt verwahrte und gegen jeden beschwerenden Gedanken, der an die Welt geknüpft blieb.

Dieser Ort, so schien es, war eine ideale Bühne für den kontemplativen Menschen und seinen vielleicht letzten großen Versuch der Selbsterkenntnis. Binsenburg machte sich nicht anheischig, seinen Sinnen zu schmeicheln, ihn mit dekorativen Stadtansichten um die Realität zu betrügen. Vielmehr hatte letztere in dieser Umgebung im Grunde zu existieren aufgehört. Jegliche Wahrnehmung schien bedeutungslos, jedes Hindernis beseitigt zu sein, das den Denker in ein störendes Hier und Jetzt hätte zurückversetzen können. Ich fühlte mich geradezu freudig bewegt, als ich in die Straße einbog, die rechts von der Allee auf jene Anhöhe führte, auf der Dr. Lenz Quartier bezogen hatte. Der schmale Weg wand sich in einigen Biegungen vom Fuße eines Seitentales zu einer Siedlung hinauf, die den prosaischen Namen Fichtenbuckel trug und aus einem Spalier älterer Reihenhäuser bestand, das hinter der Noblesse der großen Villen ringsum deutlich zurückblieb. Das Domizil von Dr. Lenz stand weiter hinten in dieser verdüsterten Gruppe und blickte auf den waldigen Saum des Höhenzugs, der das Tal auf dieser Seite begrenzte. Dass der Eindruck dieser Adresse eine gewisse Ernüchterung in mir hervorrief, lässt sich nicht leugnen. Doch obschon ich vom Anstieg erschöpft war und nicht ohne Beklemmung vor die graulackierte Haustür trat, hatte ich bereits das untrügliche Gefühl, in Binsenburg am richtigen Ort zu sein.

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