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ОглавлениеHinter den Verschanzungen seiner Umzugskartons saß am Abend desselben Tages Dr. Lenz und fand die Begebenheiten im Hause Schlierer erwartungsgemäß wenig erfreulich. Wie am Vortag berieten wir die Lage in der Einöde des Wohnzimmers. Dazu gab es Brötchen, die seit geraumer Zeit auf ihren Verzehr gewartet haben mussten, belegt mit Käsescheiben, die sich an den Rändern zu wellen begannen. Teilnahmslos brütete der Doktor vor sich hin und schien sich damit im eigentlichen Element seiner Binsenburger Tage zu befinden.
Den schlimmsten Teil meines Berichts hatte ich mir bewusst für den Schluss aufgespart. Auf schonungslose Weise nämlich hatte Lou am Ende Klarheit zwischen uns hergestellt, schienen sich weitere Fragen nach ihrer Zofenrolle zu erübrigen. Sie selbst habe Hinrich Giers das Exil in der Villa Mögen verschafft, hatte sie mir auf den letzten Metern des Heimwegs anvertraut. Sie selbst habe den Professor vom Binsenburger Exil überzeugt, kaum dass sein Wunsch erkennbar gewesen sei, sich aus dem akademischen Leben zurückzuziehen. Das Gesicht von Dr. Lenz glühte vor Zorn, als ich ihm diese sensationelle Neuigkeit übermittelte. Er, der Ahnungslose, musste zur Kenntnis nehmen, dass sich eine Studentin, die ihn beinahe um seinen guten Ruf gebracht hatte, in Binsenburg als Türhüterin seines Meisters aufspielte. Im Bewusstsein seiner Ohnmacht muss ihm dies wie ein Anschlag der hinterhältigsten Sorte erschienen sein.
Dabei hatte alles so harmlos auf mich gewirkt, als Lou und ich von unserem Aussichtspunkt über einen schmalen Pfad zur unterhalb gelegenen Terrassenstraße gestolpert waren. Nur ein paar Schritte weiter hatten wir ein unscheinbares Haus erreicht, das sich an den Hügel schmiegte und mit den modernen, schuhkartonförmigen Villen auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht konkurrieren konnte. Die graue Farbe blätterte von der Front. Auf einem Anbau befand sich eine Terrasse mit einer Pergola, die mit wildem Wein bewachsen war. Zum Eingang im erhöhten Parterre führten ein paar Stufen hinauf. Neben dem Treppenfuß parkte ich den Kinderwagen. Lou nahm den Jungen, der die zitternden Glieder streckte und im Halbschlaf seine Ärmchen um sie schlang. Mit der freien Hand fingerte sie den Schlüssel aus der Hosentasche und erklärte, dass ich nun alles wüsste. Dann ging sie mit dem Jungen die Stufen hinauf, schloss die Tür auf und verschwand im Hauseingang, ohne sich verabschiedet zu haben.
Ratlos blieb ich stehen und fühlte mich nicht gerade wie ein Glücksspieler, der versucht hat, sich eine verliebte Zofe zu engagieren. Eher war mir, als sei ich soeben selbst engagiert worden – ahnungslos, worauf ich mich eingelassen hatte. Ein Gefühl, das sich kaum dazu eignete, Dr. Lenz daran teilhaben zu lassen. Vermutlich war ihm bewusst geworden, wie wenig er die Sphären noch überblickte, in denen sein Übervater mittlerweile verkehrte. Der größte Philosoph der Gegenwart, weggesperrt in eine Kleinstadtresidenz, abgeschirmt von einer Ex-Studentin, die beim Meister offensichtlich ein- und ausging und in unmittelbarer Nähe seines Hauses ihren Wachtposten bezogen hatte. Ich fragte mich, ob sich der Doktor überhaupt noch anders mit Hinrich Giers verbunden fühlen konnte als durch die Schriften, die in seinen Kartons verstaut waren und die Sicht nach draußen versperrten.