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Haus Louisa 17

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Mein erster Besuch in der Villa Mögen endete, ohne dass ich Hinrich Giers angetroffen hätte. Lou erhob sich etwas brüsk aus ihrem Gartenstuhl und nahm das für ihn bestimmte Briefpäckchen an sich, mit dem Versprechen, es ihm bei nächster Gelegenheit auszuhändigen. Unweigerlich meldete sich die beklemmende Frage zurück, welche Rolle sie hier oben eigentlich spielte. Einzig aus der Hoffnung, eine Antwort darauf zu erhalten, akzeptierte ich schließlich Lous Angebot, sie auf dem Heimweg zu begleiten. Dass es zu keiner förmlichen Verabschiedung von den Schlierers kam, trübte meine Hoffnung auf weitere Besuche in der Villa Mögen, doch ich wusste nicht, was ich daran hätte ändern können.

Lou setzte den Jungen in einen Kinderwagen, der neben der Terrassentür stand, und bat mich zu schieben, als wir den abschüssigen Kiesweg hinuntergingen. Der Kleine lehnte sich im Sitz zurück. Bald fielen ihm die Augen zu. Lou schlenderte neben mir und stemmte die Hände in die Hüften. Sie wirkte müde, ihr Lächeln abwesend. Ohne dass ich Gründe dafür hätte nennen können, schien es mir, als ob sie nach Erholung von einer ungeheuren Anstrengung suchte. Ich hatte jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken. Weitaus Wichtigeres war zu bereden. Und obschon ich selbst nicht recht wusste, weshalb die Wahl von Dr. Lenz auf mich gefallen war, hatte ich doch, wie ich erklärte, eine klare Vorstellung vom Zweck meines Hierseins. Eine Bemerkung, über die sie sofort zu lachen begann. »Welche Vorstellung hast du denn vom Zweck Deines Hierseins?«, fragte sie mit der üblichen Wellenbewegung ihrer Augenbrauen. Ich rang um eine Antwort, während wir die Rhododendrengebirge passierten und einen großen Obstgarten erreichten. Mehrere Apfelbäume standen in weißer, vorsichtig tastender Blüte. Sie waren alt, aber gründlich beschnitten. Die Kronen waren nach oben und unten ausgedünnt. Die mittleren Zweige strebten mächtig in die Breite, wie Tischplatten, die sich an den Enden berührten. Sie bildeten ein durchlässiges Dach über uns. Der Obstgarten, von Rhododendren und Hecken gesäumt, schien einen weiten Bogen um das Haus zu beschreiben. Kugelförmig geschnittene Johannisbeersträucher meine ich gesehen zu haben, Wildblumenbeete und ausgedehnte Rabatten mit Himbeeren.

Auf irgendeine Weise muss ich wohl versucht haben, die Philosophie von Hinrich Giers mit diesem Bild einer freundlich zugerichteten Natur zu vergleichen. Dass mir zu spät klar geworden sei, worin die Faszinationskraft des Giers’schen Werks bestehe (Lou hatte mich, wie gesagt, vergeblich dafür zu interessieren versucht). Dass ich viel zu spät begriffen hätte, wie wichtig Selbsterkenntnis sei (Lou hatte mir das, wie gesagt, stets als Versäumnis angekreidet). Dass ich auf irgendeine Weise hätte nachholen wollen, was ich ihr damals schuldig geblieben sei. Und ich kann mich noch erinnern, dass ich verwundert war, wie schnell ich das alles unter dem Dach der Apfelbäume vorgebracht habe – fast so, als ob ich mir vorgenommen hätte, Lou davon tatsächlich bei passender Gelegenheit zu berichten. Es war noch nicht einmal die Unwahrheit. Schließlich war ich nicht nach Binsenburg gekommen, um Hinrich Giers zu begreifen, sondern Giers gefolgt, um Lou selbst zu enträtseln, das eigentliche Rätsel meines Lebens. Das jedoch hätte ich ihr schwerlich nahebringen können, hier, im Obstgarten der Villa Mögen, kaum zwei Stunden, nachdem wir uns wiederbegegnet waren. Wozu auch? Aufklärung über mich selbst war alles, was ich mir in Binsenburg gewünscht habe. Eine letzte Tür wollte ich aufstoßen, die mich in die Klarheit der Selbsterkenntnis führen würde.


Es war glücklicherweise nicht erforderlich, Lou die Motive meines Besuchs in Binsenburg genauer zu erläutern. Meine umständlichen Antworten schienen sie durchaus zufriedengestellt zu haben. Offenbar, so bemerkte sie, hätte ich doch noch meine »Liebe zur Weisheit« entdeckt, meine »innere Stimme« gerade noch rechtzeitig vernommen, vor dem drohenden Ende der »Sozialen Gesellschaft«. Spott, der für Lou keineswegs untypisch war, in dieser Situation jedoch merklich zu meiner Erleichterung beitrug. Mochte sie ruhig glauben, ich sei in Existenznot geraten und auf der Suche nach irgendeinem Rettungsanker. Beunruhigender wirkte schon, wie gut sie unterrichtet war. Zweifelsohne hätte ich mich fragen müssen, woher sie so genau über die »Soziale Gesellschaft« Bescheid zu wissen glaubte. Es war jedoch nicht einfach, sich solche Fragen zu stellen, wenn man mit Lou spazieren ging, einer selbstvergessenen, beinahe schlafwandelnden Lou, die ihre Hände in die Hüften stemmte, dem abschüssigen Weg kaum Widerstand leistete und ihre Glieder gleichgültig auf- und niederwogen ließ. Es war nicht einfach, sich solche Fragen zu stellen, statt an verregnete Sommerabende zu denken, an denen wir, einen schweren Rotwein auf der Zunge, durchnässt in die Frankfurter Parks geschlendert waren, aneinandergeklammert, auf dem Weg zu irgendeiner verborgenen Bank.

Ich versuchte mich zu konzentrieren und manövrierte den Kinderwagen auf ein Tor zu, das in eine hohe Gartenmauer eingelassen war. Lou hielt es auf, rot im Gesicht und etwas außer Atem. Als wir hindurchgegangen waren, lag zu unseren Füßen die Stadt, ein weißer, rings über das Tal und die Höhen gebreiteter Häuserteppich. Direkt unter uns fläzten die Villen auf den sanft absteigenden Terrassen des Paradieshügels. Im Tal leuchtete der altrosafarbene Turm der Marktkirche. Weiter hinten verlief das grüne Band der Binsenburger Allee. Die gegenüberliegenden Höhenzüge blickten etwas verdrießlich aus dem Dunst, darunter der Fichtenbuckel, auf dem der unglückliche Dr. Lenz residierte.

Wie gemacht schien das Panorama der hingebreiteten Stadt, um eine Spielfläche des eigenen Lebens darin zu sehen. Für Lou offenbar der geeignete Moment, um mir zu bedeuten, dass sie sich durch unsere Situation an »Pique Dame« erinnert fühle – und ob ich das Rätsel dieser berühmten Erzählung von Puschkin begriffen hätte. Typisch Lou, auf solche Weise ein Gespräch zu eröffnen. Woher hätte ich wissen sollen, was ihr an dieser Geschichte rätselhaft erschienen war? Sie ließ sich Zeit, spannte das Verdeck des Kinderwagens über dem schlafenden Jungen auf und lachte, als sie meinen verständnislosen Gesichtsausdruck bemerkte. »Hermann versucht den Kartentrick der alten Gräfin herauszufinden«, glaubte sie mich erinnern zu müssen. »Er schleicht sich bei ihrer Zofe ein und bittet sie, ihm Zugang bei der Gräfin zu verschaffen.« Ich nickte ungeduldig. Selbstverständlich kannte ich die Geschichte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten. Lou machte es spannend und schaute lange und versonnen auf die Stadt hinunter. »Bis zum Schluss weiß man nicht: Liebt er Lise, die Zofe? Hofft er auf den großen Spielgewinn, weil er mit ihr durchbrennen will? Oder spielt er ihr nur etwas vor, um an das Geld zu kommen?«

Ich muss gestehen, dass ich über diesen literaturgeschichtlichen Betrachtungen etwas den Faden verloren hatte. Auch verstand ich nicht, weshalb wir uns mit einer Geschichte von Puschkin hier oben so lange beschäftigten. »Wie auch immer«, murmelte Lou und blickte auf die Stadt hinunter, »am Ende benötigt jeder Hermann eine Lise, die ihm Zugang zur Gräfin verschafft. Jemanden, der ihm die Tür öffnet zur Kammer der Geheimnisse.« Sie drehte sich zu mir und ließ noch einmal ihre Augenbrauen spielen. »Ist es nicht ein komischer Zufall, dass ausgerechnet ich deine Lise zu sein scheine?«

Der Philosoph

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