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Als Dr. Lenz am Tag vor seiner Abreise in meiner Tür erschien, wusste ich noch nicht, wie dicht meine Vermutungen an die Wirklichkeit heranreichten. Der Anblick, den der Doktor bot, war jedoch bestens geeignet, zumindest meine Ahnungen zu illustrieren. Dabei bemühte er sich, um seinen Abschied keinerlei Aufhebens zu machen, versuchte seine Emotionen unter Kontrolle zu halten und beherrscht aus der Tür zu treten, die Hand zu einem kurzen, schüchternen Winken erhoben. Eigentlich hätte dieser hochgewachsene Endfünfziger im grauen Kaschmirmantel imponieren müssen. Mich selbst hat er um zwei Köpfe überragt. Stets war ich genötigt, zu ihm aufzublicken. Es war beinahe unmöglich, ein ungezwungenes Gespräch mit ihm zu führen. Weil er sich besonders beim Gehen gebückt hielt – in den Schultern schmal, in den Hüften deutlich zu breit –, ist er mir oft wie ein Vogel auf vergeblicher Suche nach Nahrung erschienen. Eine unnatürliche Röte leuchtete in seinem Gesicht, und das unruhig aufgestellte, dunkle Haar über der hohen Stirn haben auch andere mit einem Kamm verglichen.

An jenem Nachmittag schien es mir, als sei er noch röter und als ruckte sein Vogelkörper noch unruhiger als sonst. Die vorausgegangenen Wochen mussten ihn ungeheure Beherrschung gekostet haben. Tag für Tag hatte er sich um Beschwichtigung bemüht, aufmunternde Signale übermittelt, von denen sich freilich erahnen ließ, dass sie nur einen Teil dessen enthielten, was Dr. Lenz tatsächlich wusste. Große Mühe hatte er darauf verwendet, die Gründe für seine bevorstehende Abreise herunterzuspielen, den Eindruck zu vermeiden, dass in Binsenburg über die Zukunft der »Sozialen Gesellschaft« entschieden würde. Dabei war es ein offenes Geheimnis, dass der Doktor mit hohem Einsatz spielte, für seinen Aufenthalt in Binsenburg ein ganzes Haus angemietet hatte. Für mich ein Hinweis, dass er an ein theatralisches Spiel des Professors geglaubt hat, an die Eskapade eines von der Welt Enttäuschten, dem man mit dem größtmöglichen Einsatz persönlicher Ressourcen den Glauben an die Bedeutung seiner Person und seines Werkes würde zurückgeben können. Ich war mir sicher, dass er damit falsch lag.

Die Bulletins, die er bald nach seiner Ankunft an die Redaktion verschickte, bestätigten mich in dieser Einschätzung. Obschon sich der Doktor um einen Anschein von Normalität bemühte, wie gewohnt redaktionelle Anweisungen und Ideen für neue Beiträge übermittelte, begannen sich die Signale seiner Beunruhigung zu häufen. Sie erinnerten an Floskeln eines Arztes, der Angehörige über den Zustand eines schwerkranken Patienten zu beruhigen versucht. Vor unseren Augen begann der treueste Vasall von Hinrich Giers, die Gedankenfäden zu entwirren, aus denen das Verhältnis zu seinem Meister gewoben war, ein Gespinst aus Zielen, Vermutungen und Ängsten, das er zuvor mit der Eifersucht eines Liebhabers verborgen gehalten hatte. So verriet er die Entfremdung, die zum Objekt seiner Spekulationen längst eingetreten war. Dr. Lenz mochte glauben, gegen den akademischen Suizid seines Lehrers anzukämpfen. Tatsächlich offenbarte er seine Hilflosigkeit und büßte infolge seiner Selbstentblößung viel von jener Autorität ein, die er in der Redaktion lange genossen hatte.

Beinahe täglich häufte er einen neuen Wall aus Worten gegen die Ohnmacht an, die ihn zu überwältigen drohte. Soviel ließ sich seinen Lageberichten aus Binsenburg entnehmen: Er kam nicht voran. Wohl war es ihm nach kurzer Zeit gelungen, Hinrich Giers ausfindig zu machen. Offenbar stand er mit ihm in losem Kontakt, schien ihn gelegentlich sogar getroffen zu haben. Doch mit jeder Nachricht brachte seine ungewohnte Redseligkeit deutlicher zum Vorschein, dass die Mitteilungsfreude auf Seiten seines alten Meisters deutlich weniger ausgeprägt war. Was sagte Giers selbst? Weshalb war er in Binsenburg? Würde er zurückkehren? Die allgemeinen Versicherungen, es ginge ihm gut, er arbeite, es werde sich alles zum Guten wenden, wirkten umso beunruhigender, je häufiger sie sich wiederholten. Wichtige Geldgeber schienen eine Chance zu wittern, aus der Finanzierung der »Sozialen Gesellschaft« auszusteigen. Bedeutende Autoren gingen auf Distanz. Dass der berühmte Herausgeber seine Arbeit faktisch eingestellt hatte, würde sich auf Dauer vor niemandem verbergen lassen.

Neben anderen Kollegen trug auch ich mich daher mit dem Gedanken ans Aufgeben. Ob ich aus eigenem Antrieb den Mut zu einer Reise nach Binsenburg aufgebracht hätte, vermag ich heute nicht mehr abschließend zu beurteilen. Am Ende war es Dr. Lenz, der mir aus dieser Verlegenheit herausgeholfen hat. Seine überraschende Aufforderung, ihn persönlich bei seinen Bemühungen in Binsenburg zu unterstützen, erreichte mich zu einem Zeitpunkt, als ich beinahe selbst resigniert hatte. Du wirst deshalb schwerlich die Dankbarkeit ermessen können, die ich bei jedem Spaziergang in der Binsenburger Allee für ihn empfinde. Von allen Menschen, die ich persönlich kennengelernt habe, hat er es am entschiedensten verdient, dass man seiner in ehrender Erinnerung gedenkt. Ohne ihn hätte ich Hinrich Giers nicht kennengelernt. Ohne seine Vermittlung wären mir die Giersschen Erkenntnisse nicht zuteil geworden. Ohne ihn hätte ich kaum jemals in den Binsenburger Spiegel der Selbsterkenntnis blicken können.

Der Philosoph

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