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ОглавлениеNicht, dass mir gleich klar geworden wäre, was dieser unerwartete Gefühlsausbruch zu bedeuten hatte. Doch ich muss zugeben, dass ich an diesem Abend zum ersten Mal von Dr. Lenz beeindruckt gewesen war. Hinter der unbewegten Fassade des Mannes, den ich in der »Sozialen Gesellschaft« oft genug als bloßes Verlautbarungsorgan des Professors erlebt hatte, waren immerhin Überzeugungen sichtbar geworden. Schnell jedoch zeigte sich, dass er das große Ziel unserer Mission nur deshalb so farbenreich noch einmal ausgemalt hatte, weil er inzwischen an meiner Zuverlässigkeit zweifelte. Konnte es schließlich ein Zufall sein, dass sein gerade erst ausgesandter Bote so unvermittelt einen Weg ausgerechnet zu Lou Wolf gefunden hatte? Und dass ausgerechnet diese Lou Wolf über die Macht zu verfügen schien, ihn, Dr. Lenz, von Hinrich Giers fernzuhalten, ihn, den legitimen geistigen Erben des Professors? Oder gingen hier Dinge vor sich, von denen er nichts ahnte und unter deren Einwirkung sich das Binsenburger Puzzle zu einem neuen, unheilvollen Bild zusammenfügte?
Mein Gastgeber erhob sich, stützte sich mit den Händen auf der Tischplatte ab, direkt vor dem Brötchenteller, und fixierte mich von oben herab. »Kennen Sie diese Schlierers von früher? Stehen Sie mit ihnen in einer Verbindung, von der ich nichts weiß?« Eine kurze Pause, ein bohrender Blick. »Gehören Sie ebenfalls zum Kreis dieser … Verschworenen in der Villa Mögen?« Wie ein Ermittler beugte er sich zu mir herunter. Nur die Befragungslampe fehlte. Beinahe hätte ich aufgelacht. Mit den Schlierers bekannt zu sein, war ein wundervoll absurder Gedanke. Irgendetwas dieser Art muss ich wohl auch erwidert haben, ohne dass Dr. Lenz mit meiner Antwort zufrieden gewesen wäre. Seine zweite Frage erreichte mich wie der Luftschwall aus einem Kühlregal. »In welcher Verbindung stehen Sie zu Louisa Wolf?« Ich spürte deutlich, dass er mein Zögern bemerkte. Was hätte ich antworten sollen? Er konnte von unserer früheren Beziehung längst erfahren haben.
Mir war klar, dass ich die Wahrheit sagen musste. Ich erklärte also, dass ich Lou Wolf – jawohl – geliebt hätte. Dass sie es gewesen sei, die mein Interesse für die Werke von Hinrich Giers geweckt, dass sie mich grundlos verlassen, später Julian Fleig kennengelernt habe, Mutter geworden sei und wir seither voneinander nichts mehr gehört hätten, bis sie mir heute, nach drei Jahren gegenseitiger Nichtbeachtung, im Haus der Schlierers unerwartet wiederbegegnet, sie mir mittlerweile jedoch gleichgültig sei und ich von ihrem Aufenthalt in Binsenburg nichts gewusst hätte, geschweige denn, dass ich einer Aufforderung von ihr gefolgt sei, in die Stadt zu kommen. Einzig das Interesse an Hinrich Giers und seinem Werk hätten mich zur Reise veranlasst, vor allem aber die Aufforderung des Doktors, mich an Ort und Stelle zu seiner Verfügung zu halten.
Dr. Lenz stieß sich mit seinen Händen von der Tischplatte ab. Wie zwei große, weiße Vögel flatterten sie über den Käsebrötchen auf. Er drehte mir den Rücken zu, verharrte so einen Moment und machte dann ein paar Schritte durch das halbdunkle Zimmer. Plötzlich drehte er sich auf dem Absatz um, trat wieder vor den Tisch und begann – ich vermag es nicht anders auszudrücken – zu brüllen. »Dann sagen Sie mir, weshalb mir Robert Schlierer empfohlen hat, Sie – ausgerechnet Sie – nach Binsenburg zu holen. Warum er behauptet hat, dass Sie … ein guter Mittler seien. Dass Sie das volle Vertrauen … das volle Vertrauen von Hinrich Giers besitzen würden!« Diese Frage überraschte mich nicht wenig – und kam vermutlich zu schnell, als dass ich über meine Antwort noch einmal hätte nachdenken können. »Ich habe mit dem Professor nie persönlich gesprochen«, erwiderte ich (vermutlich in ähnlicher Lautstärke wie der Doktor). »Ich habe ein paar Vorlesungen bei ihm gehört. Mehr nicht.«
Dr. Lenz sog Luft ein. Ich erwartete, dass er nochmals brüllen würde. Doch er schwieg, verschränkte die Arme vor der Brust und stierte mich an. Im Dämmerlicht des Zimmers leuchtete sein rotes Gesicht. Mag sein, dass er an die vergangenen Jahre in der »Sozialen Gesellschaft« gedacht hat. Daran, dass ihm kaum entgangen wäre, hätte zwischen Hinrich Giers und mir eine Verbindung bestanden. Möglich auch, dass ihm nun erstmals zu dämmern begann, worin die eigentlichen Beweggründe bestanden haben mochten, ihm meine Tätigkeit als Vermittler nahezubringen. Jedenfalls hob er schließlich den Kopf und flüsterte zwei Worte in die Stille: »Louisa … Wolf …« Dann schaute er mich an. Auf seinem Gesicht standen Schweißperlen. Aber er lächelte. Erst verstohlen, dann verschmitzt. Dann lachte er, nicht meckernd wie zuvor, sondern entspannt und mit geschlossenen Augen.