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ОглавлениеNach den betäubenden Wortschwällen des Artilleristen wirkte der weißgetünchte Saal zunächst ernüchternd auf mich. Ich fühlte meine Spannung zurückkehren, als ginge das lästige Präludium zu Ende, als könnte ich nun endlich, die Umhängetasche mit den Briefen fest umklammert, Hinrich Giers gegenübertreten. Der große Raum wuchs links und rechts in die Breite. Eine hohe Terrassentür lag direkt gegenüber, auf beiden Seiten flankiert von je zweien der kunstvoll gegliederten Fenster. Hinter den Scheiben leuchtete das üppige Grün des Gartens.
Ich schaute mich nochmals um, konnte zunächst aber niemanden entdecken. Eine leise Enttäuschung begann sich bemerklich zu machen. Gerade hörte ich den Artilleristen hinter mir die Tür schließen. »Der Besuch ist gekommen«, sagte er mit seinem freundlichen Bariton. Da sah ich ihn im nächsten Moment schon wieder vor mir sitzen, in einer Sofagruppe aus weißem Leder, vertieft in eine Zeitschrift, das Kinn auf eine Hand gestützt, das Gesicht hinter seiner blonden Mähne verborgen. Vor Schreck ist mir für eine Sekunde tatsächlich kalt geworden. Dabei war die Sache nicht weiter spektakulär. Wie ich später erfahren habe, ist sie in der Stadt als sogenannter »Schlierer-Effekt« sogar zu grotesker Berühmtheit gelangt. Es war eine Frau, die auf dem Sofa den Kopf hob, die blonden Strähnen zur Seite schob und mir freundlich ihr braungebranntes Gesicht zuwandte. Frau Schlierer war von ähnlicher Größe wie ihr Mann, von ähnlich schwer bestimmbarem Alter, von vergleichbar beträchtlichem Umfang, ihre Bluse ähnlich bunt wie sein Hemd, ihre Jeans ähnlich zerschlissen wie die seine, und auch im Verrunzelungsgrad der sonnengebräunten Haut stand keiner dem anderen nach. Die größte Beklommenheit jedoch verursachte mir die Ununterscheidbarkeit ihrer Frisuren. Der blondierte, etwa schulterlange Pony verwandelte sie in Puppengeschwister aus einem Kasperletheater. Nicht ohne Erschaudern tauschte ich mit Frau Schlierer einen Händedruck. Dann schlurfte sie zur Tür und verschwand, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Ich ließ mich in der gewaltigen, U-förmigen Leder-Sitzgruppe nieder, legte meine Umhängetasche ab und atmete durch. »Villa Mögen heißt dieses Anwesen«, meldete sich der Artillerist zurück, ließ sich anstelle seiner Frau gegenüber in die Polster plumpsen und wies mit ausgestreckter Hand in den Saal. »Friedrich Mögen … bedeutender Industrieller … Haus um 1890 erbaut … Fan des Palladio … wunderbarer Stil.« Ich nickte und kam der indirekten Aufforderung nach, den weitläufigen Raum noch einmal auf mich wirken zu lassen. Außer einem gläsernen Rundbogen über der Terrassentür erinnerte an Palladio allerdings nichts mehr. Neben unserer Sofainsel war ein würfelförmiger Stahlofen mit quadratischen Fenstern in den Boden eingelassen, einer überdimensionierten Laterne nicht unähnlich. Das Abzugsrohr ragte senkrecht nach oben und verschwand in der weißgetünchten Stuckdecke. An den kurzen Seiten des Saales hingen großformatige Popart-Bilder, Frauenporträts in grellen Farben. Links und rechts neben der Eingangstür prangten weiße Regalwände, die von Bildbänden, weißen Vasen, schwarzen Kuben und anderem Designer-Klimbim bewohnt wurden. Auch der Fernseher fehlte nicht, ein weißgerahmtes, in die Wand eingelassenes Monstrum, flankiert von zwei Lautsprecher-Türmen.
»Villa Mögen … anspielungsreicher Name«, ließ sich der Artillerist von neuem vernehmen. »Im Sinne von Potentia … lateinischer Begriff … Vielfalt der Möglichkeiten … Vielfalt des Könnens … eine Aufforderung … Ermutigung …« Frau Schlierer kam zurückgeschlurft. Auf einem Silbertablett transportierte sie eine Sektflasche und drei bereits gefüllte Gläser. »Mögen … beinahe ein Imperativ … möge es in deinen Kräften stehen … möge es gelingen …« Ich nickte möglichst beifällig zu diesen Ausführungen, während Frau Schlierer auf dem Couchtisch Flasche und Gläser abstellte. Der Artillerist schob mir eines der Gläser zu und produzierte ein aufforderndes Lächeln.
Bevor wir jedoch anstoßen konnten, ertönte hinter dem Ofen ein Geräusch. Es klang wie helles Seufzen. Überrascht lehnte ich mich zurück, um an der Konstruktion vorbeischauen zu können. Hinter dem Ofen stand ein weißlackiertes Ställchen. Frau Schlierer trat davor, beugte sich hinunter und hob ein Kind heraus, einen etwa zwei Jahre alten Jungen, der benommen sein Köpfchen auf ihre Schulter drückte und verhaltene Klagelaute von sich gab. Er hatte einen dunklen, langen Haarschopf und steckte in einem farbig bestickten Frotteeanzug, wie ein Indianer auf dem Kinderfasching. Vermutlich war er von den Ausführungen zum lateinischen Ursprung des Hausnamens in seiner Ruhe gestört worden. Frau Schlierer hielt ihn lächelnd im Arm, schlurfte zur Sofainsel zurück und setzte sich an die Seite ihres Mannes. Dann erhoben die blondierten Alten synchron ihre Gläser, lächelten sich zu, bevor sie, wie Zwillinge aus dem Puppentheater, freundlich auch mir zuprosteten. Ich erwiderte, so gut ich konnte, nahm einen tiefen Schluck und verspürte wachsende Fassungslosigkeit.