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Binsenburg also. Mehr brauchten wir uns während der folgenden Wochen nicht zuzuraunen als diese Worte: »Binsenburg also.« Was auch immer zu tun war – es würde dort zu tun sein. Früh musste Dr. Lenz den Plan gefasst haben, dort selbst Quartier zu beziehen – auch wenn er darüber nichts erzählt hat und keiner von uns hätten ahnen können, welche erheblichen Mittel er für diese Mission einzusetzen bereit war. Einzig über die Motive des Professors wussten wir noch weniger. Selbst Dr. Lenz hat kaum mehr zuwege gebracht, als aus Mutmaßungen eine – wie sich bald zeigte – schlecht durchdachte Strategie zu entwickeln.

Im Grunde war da nur der Zufluchtsort: Binsenburg. Womöglich kein Ort, sondern eine Entscheidung. Schließlich betrat man solche Kurstädte kaum anders als ein alter Elefant, der in der Wildnis, fernab der großen Weideplätze, seine letzte Ruhestätte sucht. Man kannte die Bilder von langen Alleen und sanften Bergen. Da waren Mammutbäume, von denen behauptet wurde, ihr Anblick habe bereits das Gemüt vieler bedeutender Geister beruhigt. Es gab sorgfältig angelegte Rosengärten, gesäumt von gestutzten Hecken. Es gab murmelnde Bäche, die über kunstvoll gemauerte Stufen flossen und dabei anmutige kleine Wirbel warfen. Binsenburg war der Entschluss, dem Tod in einer schönen Umgebung begegnen zu wollen. War ein Mann wie Hinrich Giers für dieses zweifelhafte Bedürfnis empfänglich gewesen? Suchte er einen versöhnlichen Abschied vom Leben? Manche haben das geglaubt. Dabei sprach nahezu alles dagegen.

Hätte ein Kranker oder gar Sterbender nicht zu bilanzieren, seine Hinterlassenschaften zu ordnen versucht? Hätte er nicht zumindest enge Freunde über seine veränderte Lebenssituation in Kenntnis gesetzt, hier und da ein vertrauliches Wort des Abschieds gesprochen? Hinrich Giers hatte nichts dergleichen getan, hatte bis zuletzt (auch nach seiner Emeritierung) nahezu täglich sein altes Arbeitszimmer in der Universität aufgesucht. Auf dem Schreibtisch hatten noch seine aufgeschlagenen Bücher gelegen, neben Blättern mit frischen Notizen. Sämtliche an ihn gerichtete Briefe und Nachrichten waren unbeantwortet geblieben. Einzig das Rektorat der Universität hatte offenbar eine knapp gehaltene Erklärung erhalten, sich allerdings geweigert, den Inhalt öffentlich zu machen. Nur eines haben Eingeweihte damals erfahren: Hinrich Giers war in Binsenburg und gedachte offensichtlich dort zu bleiben. Unverkennbar war er in der Absicht gegangen, sich nicht zu erklären. Was lag näher als die Vermutung, ein tieferer Beweggrund müsse dahinter verborgen liegen?

Ich habe immer geahnt, dass es sich um ein geistiges Problem handelte, der Denker in einen Widerspruch zu seiner Zeit geraten war, den er einzig durch diesen radikalen Entschluss auflösen zu können glaubte. Hast du eine solche Möglichkeit je in Betracht gezogen? Oder bist du gleich den Vermutungen nachgegangen, von denen du auch später immer geredet hast, jenen haltlosen Behauptungen über die Gefühlswirrnisse eines alten Mannes und den angeblichen Abgründen seiner Leidenschaften? Andererseits, was sonst hätte deine große Leserschaft interessieren sollen? Wer war schon Hinrich Giers, jenseits der verblassenden Chiffren vom Nimbus seiner wissenschaftlichen Autorität? Wen mochte es am Ende kümmern, ob er redete oder schwieg?

Deshalb will ich dir gar nicht verübeln, dass Gerüchte über seine Verfehlungen Anziehungskraft auf dich ausgeübt haben, zumal bei deiner Neigung, den Grund des Daseins in den Dunst von Leidenschaft und Eitelkeit zurückzuverlegen. Ich war ja selbst davon fasziniert, als ich dich kennengelernt habe. Eine Frau, nur wenige Jahre älter als ich, die ihre Finger entschlossen nach dem Herz der Finsternis ausstreckte und vor niemandem haltgemacht hätte, schon gar nicht vor einem hohen Repräsentanten des Geisteslebens wie Hinrich Giers. Wie befremdlich muss dir noch heute meine Behauptung erscheinen, dass dieser Mann in der Lage wäre, uns aus den Verirrungen unseres modernen Menschseins herauszuhelfen. Dass Selbsterkenntnis möglich ist, wie er oft genug betont hat. Dass wir uns aus dem Verhängnis befreien können, in das wir uns reflexionslos verirrt haben. Schon während seiner letzten Vorlesungen habe ich ihn diese Sätze sagen hören. Und ich bin überzeugt, dass er damit den Widerspruch skizzieren wollte, in den er seinen Aufklärungswillen zur Welt gesetzt sah. Wen hätte er schließlich noch erreichen sollen im Reich der Selbstvergessenen, auf dem Terrain der innenverspiegelten Paläste, der unerreichbaren Kommunikationsblasen und Echokammern? Wie hätte dieser alleingelassene Mann mit dem Unwillen zur Selbsterkenntnis zurechtkommen sollen? Er, der diesen Unwillen für die Krankheit der Gesellschaft hielt? Konnte aus seiner Einschätzung etwas anderes als Lebensekel erwachsen? Eine womöglich etwas bombastische, selbstgerechte Abwendung von der Welt? Und war es gänzlich abwegig zu fragen, ob dieser Ekel heilbar sei?

Der Philosoph

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