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Noch immer war das Gesicht des Doktors feuerrot. Als er seinen Vogelkopf schließlich reckte und mich fixierte, glaubte ich bereits, das Ende meiner Mission sei gekommen. »Angenommen, Hinrich Giers würde für immer verstummen«, hob er an, »wäre das ein Verhängnis für Sie?« Mir war schleierhaft, worauf er mit dieser Frage zielte. »Ich meine, messen Sie dem Werk von Hinrich Giers irgendeine Bedeutung bei? Irgendeine besondere, lebensverändernde Bedeutung?« Noch heute weiß ich, wie hilflos ich mich fühlte, als diese Art der Examinierung begann.

Mir war nicht klar, dass der Doktor längst damit begonnen hatte, die Binsenburger Puzzlestücke neu zusammenzusetzen und zu prüfen, ob ich ihm in der veränderten Situation noch von Nutzen sein konnte. »Nun, was mich betrifft«, erklärte er, ohne meine Antwort abzuwarten, »so glaube ich, dass es in der Philosophie … um alles geht. Um alles gehen sollte.« Er blinzelte zur Decke. »Und am Ende ist alle Philosophie auf Selbsterkenntnis gerichtet.« Während der folgenden Sätze blieb der Vogelkopf zur Decke gerichtet, als würde der Doktor dort oben einen vorbereiteten Text ablesen. »Sie kann nicht weniger wollen als Selbsterkenntnis. Sie kann nicht früher aufhören als bei der Selbsterkenntnis. Oder bei etwas aufhören, was keine Selbsterkenntnis ist.«

Wie oft der Doktor diesen Gedanken wiederholt hat, weiß ich nicht mehr. Philosophie müsse auf Selbsterkenntnis gerichtet bleiben, dürfe sich mit weniger nicht zufriedengeben, dürfe dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren und so weiter. »Es ist mir gleich, was dabei herauskommt«, rief er schließlich und fuhr sich durch die aufgerichteten Haare, »soll die Reflexion aussehen, wie sie mag. Ob Sie glauben, wir seien Bewohner platonischer Höhlen, Sprachspieler, seinsvergessene Lemuren vor dem Weltende oder Mietnomaden in sozialen Treibhäusern. Es ist mir gleich«, krähte er, »aber wenn diese Gesellschaft glaubt, sie könnte ohne Selbsterkenntnis auskommen, wenn wir nicht mehr darüber nachdenken, wer wir sind, dann …« Er stierte mich an. Sein Gesicht war tomatenrot. »Sie wissen es nicht? Nein? Dabei ist es eine Selbstverständlichkeit. Wer aufhört, sich selbst zu reflektieren, hört auf, ein Mensch zu sein. Wird zur Karikatur eines Menschen. Wird zu einem Sprechapparat, der vielleicht ›Ich‹ sagen kann – ja, das vielleicht schon –, aber doch nur wiederholt, was er sowieso schon immer gesagt und gedacht hat. Wie eine Witzfigur, die immer denselben Gag machen will.«

Dr. Lenz schaute mich an, als trüge ich für diese Gedankenlosigkeit höchstselbst die Verantwortung. »Und was geschieht, wenn eine ganze Gesellschaft die Selbstreflexion einstellt? Wenn unsere Zeitgenossen über sich nicht mehr nachdenken? Haben Sie einmal versucht, sich das vorzustellen? Wissen Sie, was geschieht, wenn Sie nur noch umgeben sind von Leuten, die nichts tun, als ihre alten Gags zu wiederholen? Die überzeugt sind, jeder geringfügige Einspruch, jedes Widerwort sei ein Angriff auf ihre Person? Die in der Welt nichts sehen als eine täglich erneuerte Kränkung ihrer Selbstgewissheit? Wissen Sie, was das bedeutet?«, fragte mich Dr. Lenz mit unverändert aufgerissenen Augen, und es war klar, dass er irgendeine Katastrophe, ein wie auch immer geartetes Ende der Vernunft imaginieren wollte, das zugleich ein Ende der Freiheit, die Geburt einer neuen Diktatur, Krieg oder sonst etwas Bedrohliches bedeuten würde.

»Sie können leicht ermessen«, fauchte der Doktor, »was es in diesen Zeiten hieße, würde Hinrich Giers zum Schweigen gebracht. In einer Zeit, in der sich die meisten Menschen nur noch dafür interessieren, wie sie aus ihrer Borniertheit das Maximum herausholen können. Was das Gehirn zu brauchen scheint, um möglichst oft irgendwelche Glückshormone in den Körper zu schießen. Denn das ist alles, was vom Wunsch nach Selbsterkenntnis übriggeblieben ist«, rief er mit dem Blick zur Decke – und zu meiner höchsten Irritation begann er dabei hoch und meckernd zu lachen. »Wer ich bin, aus welchen Bestandteilen mein Ich besteht, kann ich nicht sagen. Aber ich möchte es genießen. Hehehehe! Keine Ahnung, worauf meine Existenz abzielt. Aber sagt mir, wie ich meinen Weg noch zielstrebiger weitergehen kann. Hehehehe! Mein Leben hat keinen Sinn. Aber das will ich richtig auskosten. Hehehehe!« Dr. Lenz lachte mit geschlossenen Augen, den Kopf nach hinten geworfen wie ein zerzauster Hahn, während ich meinen Blick auf die übriggebliebenen Brötchen mit dem vergilbenden Käse senkte. Nur langsam begann sich der Doktor zu beruhigen und schluckte die letzten Gluckser hinunter. »Ich kenne nur einen«, erklärte er schwer atmend, »der diesem … Unsinn entgegentreten kann, diesem … Geschwätz der Lebensberater und Fernsehphilosophen.« Düster musterte er mich und nickte mehrmals, um seinen Worten besonderen Nachdruck zu verleihen. »Dieser Mann hockt in der Villa eines Egomanen und ist nicht ansprechbar. Und nichts wäre schlimmer für uns, als wenn er sich zu den Vorgängen der Gegenwart nicht mehr äußern würde.«

Der Philosoph

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