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Binsenburger Allee 1
ОглавлениеDu solltest mich nicht missverstehen: Ich schulde dir nichts. Schon gar nicht diesen Bericht – nach der Katastrophe von Binsenburg. Zwar gäbe es viel zu sagen. Sehr viel. Doch nachdem ich alles gründlich durchgegangen bin – meine sämtlichen Notizen, meine Berichte, meine Aufnahmen –, werde ich mich kurzfassen, nur das Allerwichtigste notieren. Mehr dürftest du von mir kaum verlangen können – nach allem, was geschehen ist. Zu tief sitzen manche der Verletzungen, die du mir zugefügt hast. Ich schreibe lediglich in der Hoffnung, dass du an der eingetretenen Situation noch etwas ändern kannst. Dass du bereit bist, eine gewisse Form der Wiedergutmachung zu leisten. Nicht an mir, wie ich hervorheben möchte (es läge mir vollkommen fern, mich in den Vordergrund drängen zu wollen), sondern im Dienst an der Gesellschaft, die dank deiner Berichterstattung von allergrößter Dummheit verdüstert zu werden droht.
Wären wir uns nicht zufällig in der herbstgoldenen Binsenburger Allee wiederbegegnet, hätte ich vermutlich gar nicht damit begonnen, diesen Bericht zu schreiben. Doch als wir uns gegenüberstanden, der Wind die Blätter aufwirbelte und ich zuerst gar nicht fassen konnte, dass du, die gefeierte Gesellschaftsreporterin, nach Binsenburg zurückgekehrt warst, stand auch alles andere wieder vor meinen Augen: der hoffnungsvolle Frühling in dieser Stadt, jene Wochen nie für möglich gehaltener geistiger Errungenschaften – und die Enttäuschung, das alles in den Schmutz falscher Verdächtigungen gezogen zu sehen.
Vor allem war ich, wie ich zugebe, verärgert, dir diese widersprüchliche Empfindung nicht zumindest in wenigen Sätzen erläutern zu können. Es hat mich gequält, dein Mienenspiel zu beobachten, während ich, dein ehemaliger Praktikant, dein süßer Junge, nach den richtigen Worten gesucht habe. Wie du mich gemustert hast, mit diesem unterdrückten Lächeln, das die Überzeugung verriet, mich im Unrecht zu wissen und deshalb auf meine Klärungsversuche gar nicht angewiesen zu sein. Ja, es geschieht vermutlich aus einer gewissen Verärgerung, dass ich dir im Nachhinein ein korrektes Bild von dem zu vermitteln versuche, was ich hier in Binsenburg unternommen habe: nichts Geringeres, als den größten Philosophen unserer Zeit wieder zum Sprechen zu bewegen. Jawohl, ich habe Hinrich Giers davon überzeugen wollen, dass er nicht verstummen, unsere Zeit nicht ihrem Schicksal überlassen dürfe. Dass er zurückkehren müsse auf die Bühne unseres modernen Lebens. Dass er es nicht verantworten könne, sich seiner aufklärerischen Aufgabe zu entziehen und noch länger vor der Welt in Binsenburg zu verbergen.
Wochen größter Anstrengungen habe ich in dieses Unterfangen gesetzt, und so viel möchte ich vorwegnehmen, dass du dir davon einen ganz falschen Eindruck, ja sogar die absurden Behauptungen zu eigen gemacht hast, die bis heute über den Philosophen verbreitet werden – in der offenkundigen Absicht, die Integrität seiner Persönlichkeit zu beschädigen. Es bleibt meine Hoffnung, dir diese gravierenden Fehler halbwegs einsichtig machen zu können. Zwar schweigt der Professor unverändert, das lässt sich nicht bestreiten. Doch wenn er von neuem das Wort ergreift, wird die Philosophie wieder zur Geltung gelangen, wird der moderne Mensch die überanstrengten Gebärden ablegen, mit denen er sich unaufhörlich wichtig zu machen und in den Mittelpunkt der Welt zu stellen versucht. Ist es vollkommen abwegig, sich von diesem Moment den Anbruch einer neuen Epoche der Weltgeschichte zu versprechen? Wäre es nicht versöhnlich, am Ende sagen zu können, wir beide seien damals, in Binsenburg, dabei gewesen?