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Dr. Lenz und ich waren keineswegs gut miteinander bekannt. Es war daher ein Moment nicht ohne Peinlichkeit, als er mir öffnete und mich ohne Begrüßungsfloskeln, beinahe hastig, hineinbat. Die Ruhelosigkeit, mit der er mich durch das weitgehend leere Parterre des Hauses führte, ließ keinen Platz für Höflichkeiten. Er deutete in ein kleines, dunkles Bad, ohne sich zu dessen Verwendung zu äußern, und öffnete am Ende der Diele die Tür zu einer Kammer, deren Fenster in den rückwärtigen Garten wies. Das Zimmer war leer, bis auf eine geblümte, an die Wand gelehnte Matratze, einen fleckigen Eichentisch und einen Stuhl, vermutlich die Hinterlassenschaft des vormaligen Besitzers. Die nachgedunkelten Wände zeigten scharfkantige weiße Flecken. Von wem er die deprimierenden Räumlichkeiten bezogen hatte, hat mir Dr. Lenz nicht verraten. Er schien überhaupt entschlossen, mir möglichst wenig Hinweise auf seine näheren Lebensumstände zu geben. Von dem Haus, das er während der letzten Monate seines Lebens bewohnt hat, habe ich kaum mehr zu Gesicht bekommen als jenes trostlose Verlies, das für mehrere Wochen mein Domizil werden sollte, und den Wohnraum, den wir betraten, kaum dass ich meine Tasche abgestellt hatte.

Fahrig räumte der Doktor zwei Teegedecke auf einen großen, mit Büchern und Papieren übersäten Tisch, der in der Mitte des Raumes stand, schenkte aus einer gläsernen Kanne ein, setzte sich, stand wieder auf, stapfte in die benachbarte Küche, begann dort lautstark herumzuräumen und kam zurück mit einer Schachtel billiger Kekse, die er wortlos auf den Tisch schob. Dann saßen wir einander gegenüber und nippten an unseren Tassen. Der Tee war lauwarm und schmeckte furchtbar. Im Raum war es dunkel. Vor den beiden Terrassentüren, die in den Garten hinausführten, war eine Wand aus Umzugskisten errichtet. Nur oberhalb dieser Mauer fiel etwas Licht herein. Schweigend blickte ich mich um. Hinten im Zimmer stand ein schwerer Schreibtisch, ein geschmackloses Möbelstück aus schwarz lackiertem Holz mit wuchtigem Schubladenaufsatz, daneben ein Kellerregal mit wenigen, wahllos eingelegten Böden, auf denen sich Bücher stapelten.

»Ich bin dankbar, dass Sie gekommen sind«, sagte Dr. Lenz schließlich und ließ nochmals eine Minute verstreichen. Dank meiner Gesprächsnotizen kann ich den Wortlaut präzise wiedergeben. »Hinrich Giers ist … verändert.« Der Doktor zuckte mit dem Kopf und zog die Schulterblätter nach oben, als ob er den Schrecken darüber zu unterdrücken versuchte, wie gründlich auch sein eigenes Leben infolge dieser Entdeckung verändert war. »Er bedarf der Ruhe«, lautete die Schlussfolgerung des Doktors, ganz so, als ob er selbst bereits entsprechende ärztliche Anordnungen getroffen habe. »Es ist unsere Aufgabe, alles zu tun, um unserem Freund die Souveränität über sein Leben zurückzugeben.« Offenbar war Dr. Lenz dabei, mir eine Art Lagebericht vorzutragen, der mich über die Situation orientieren sollte. »Hinrich Giers möchte die Verfügungsgewalt über sein Werk zurückgewinnen. Es macht den Eindruck, als würde er Atem holen … Atem holen für die letzte große Aufgabe … die große Mission seines Lebens, von der wir wissen, dass er sie … trotz aller Anstrengungen … bisher noch nicht erfüllen konnte«, verkündete Dr. Lenz, offenbar in dem Glauben, von der Warte eines objektiven Beobachters zu sprechen, und skizzierte sogleich seine Hoffnungen. »Es geht um das Werk, mit dem Hinrich Giers seinen Namen verewigen wird, mit dem er vollenden wird, wofür wir damals angetreten sind in der ›Sozialen Gesellschaft‹«.

Mit beklagenswerter Vorhersehbarkeit wiederholte der Doktor dann vieles aus jener alten Theorie der »Sozialen Gesellschaft«, die sein Lehrer zuletzt vor dreißig Jahren vorgetragen hatte und deren Einzelheiten ich dir ersparen möchte. Was aus den akademischen Anfängen von Hinrich Giers bestenfalls als blasser Titel einer Zeitschrift übriggeblieben war, dürfte Dr. Lenz bis zum letzten Moment angetrieben haben: die verführerische Idee einer letztgültigen Theorie. Der fundamentale Irrtum, die Selbstbefragung des Menschen zu einem Ende bringen, auf die Frage nach der Selbsterkenntnis eine endgültige Antwort geben zu können. Der Doktor hatte keine Freude an der unerschöpflichen Kraft und Tätigkeit der Vernunft, ihren immer neuen Hervorbringungen. Wie alle Menschen, die im Verborgenen ihre Lebensängste hegen, wünschte er sich feste Resultate. Der Gedanke erschien ihm furchtbar, dass Selbsterkenntnis der bloße Abguss eines Zustands, die Spiegelung eines geistigen Augenblicks sein könnte. Ich war überzeugt, dass er Illusionen nachhing, hier oben, in der selbstgewählten Einöde auf dem Fichtenbuckel. Er war nicht nach Binsenburg gekommen, um sich in eine offene Auseinandersetzung zu begeben, sondern verteidigte hinter selbsterrichteten Kartonwänden seine vermeintlichen Gewissheiten. Meine anfangs verspürte Zuversicht drohte zu verflachen. Unfähig, mich länger zu beherrschen, unterbrach ich den Lagebericht. »Herr Dr. Lenz, wozu bin ich hier?«

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