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Tierische Verbündete

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Bei den Naturvölkern heißt es, dass jeder Mensch sein Tier oder seine Tierhelfer hat, mit denen er auf Gedeih oder Verderb verbunden ist. Nagual nannten die Azteken den tierischen Doppelgänger des Menschen, der seine wilde Natur verkörpert. Das Nagual gibt sich oft während der Schwangerschaft oder bei der Geburt eines Menschen zu erkennen. Die mittelamerikanischen Indios halten in der Geburtsnacht Ausschau und lauschen, welches Tier sich da zeigt. Ist es ein Jaguar, ein Wildschwein oder ein anderes Krafttier, dann weiß man, es wird eine starke Persönlichkeit geboren, ein Schamane vielleicht. Manchmal wird das Kind dann auch nach seinem tierischen Doppelgänger benannt.

Auch den germanischen Völkern war der Gedanke nicht fremd. Folgeseelen oder Fylgia nannte man die tierischen Doppelgänger. Als Bären, Wildschweine, Hirsche und Wölfe streifen die Seelen starker Männer und Frauen durch den Wald, als Adler, Raben und Schwäne fliegen sie durch die Lüfte, als Lachs oder Otter schwimmen sie im Wasser (Meyer 1903: 262). Als Bär kämpft der Krieger Bjarki draußen auf dem Schlachtfeld, während sein Körper in der Halle erstarrt in tiefer Trance liegt.

Die Verbindung mit den Krafttieren kommt in Namen wie Rudolf (althochdeutsch hrod und wolf, »ruhmreicher Wolf«), Bernhard (ahd. bero und harti, »kräftiger, ausdauernder Bär«), Björn (schwedisch, »Bär«), Bertram (ahd. behrat und hraban, »glänzender Rabe«), Arnold (ahd. arn und walt, »der wie ein Adler herrscht«), Falko (ahd. falkho, »Falke«), Schwanhild (svan und hilt, »kämpfender Schwan«) oder Eberhart (ebur und harti, »zäher Eber«) zum Ausdruck. Auch Arthur und Art (altkeltisch arto, »Bär«) und Urs oder Ursula (lateinisch ursus, »Bär«) sind Nachklänge totemischer Namensgebung in unserem Kulturkreis.

Ein Schamane ohne Tierverbündete wäre schwach und hilflos. Jedes Tier kann ein solcher Verbündeter sein. Wie bei Odin (Wotan), dem nordeuropäischen Schamanengott, kann ein verbündeter Rabe für den Schamanen ausfliegen und Unbekanntes auskundschaften. In Gestalt eines Jaguars kann der südamerikanische Schamane, dessen Körper sich erstarrt im tiefen Trancezustand befindet, durch den Urwald streifen. Mit Hilfe des Wildschweingeists schnüffelt der nepalesische Jhankrie den im Körper des Patienten verborgenen Krankheitsgeist oder den magischen Pfeil heraus. Als Adler hoch am Himmel fliegt der indianische Trancetänzer beim Sonnentanz und bringt bei seiner Rückkehr seinem Stamm wegweisende Botschaften von den hohen Geistern. In Werwölfe verwandelt, liefen einst litauische Bauern in der Vollmondnacht im Mai durch Wald und Wildnis, um gegen die Wintergeister zu kämpfen, die die letzten saatschädigenden Fröste bringen.


Bärenreitender Schamane auf magischer Reise. (Zeichnung auf dem Schamanenkostüm eines Samojeden, Sibirien)

Auch unsere Sagen sind voller weissagender Schwäne, sprechender Pferde, magischer Hirsche und anderer Tiere, die mit schamanischen Persönlichkeiten verkehren. Schamanentum ist auch unser – wenn auch verschüttetes – Erbe. Die Schamanen, die einstigen Rivalen der christlichen Missionare, wurden im Zuge der Bekehrung verteufelt und diskreditiert. Aber noch lange gab es Alte, die in der Gestalt von Wolf oder Bär durch die Wälder streiften, als schwarze Katze auf Samtpfoten durch das nächtliche Dorf schlichen oder als großäugige Eule flogen. Oder ihren Tierfamiliar, ihren spiritus familiaris, ausschickten.

Das von der Inquisition im Spätmittelalter brutal bekämpfte Hexentum ist einer der letzten Ausläufer des alteuropäischen heidnischen Schamanentums (Müller-Ebeling/Rätsch/Storl 1998: 48). Aber auch bei den Christen tauchen gelegentlich Tiere als Verbündete oder Begleitwesen auf: Der Esel bei der Krippe und als Reittier des Jesus, Lukas als Stier, Johannes als Adler, der Heilige Geist als Taube. Und Konrad von Würzburg (1220–1287) sieht den Heiland als ein Wiesel: »Christ der hohe Hermelin, schlüpft in der tiefen Hölle Schlund und biss den mord-giftigen Wurm zu Tode in all seiner Macht.«

Bei den Naturvölkern sind das Schamanentum und der Umgang mit tierischen Schutzgeistern und Verbündeten noch lebendig. Bei den Indianern haben jede Medizinfrau und jeder Medizinmann ein helfendes Tier, das ihnen Kraft gibt, ihnen Träume schickt und sie auf Reisen in die Geisterwelt begleitet. Der Tiergeist kann den Medizinmann oder die Medizinfrau als Kind adoptieren oder sogar heiraten – auch wenn der Betroffene im Alltag schon mit einem menschlichen Gefährten vermählt ist. Es gibt Adlerträumer, Büffelträumer und andere Medizinleute, die mit dem Steppenwolf, den Ameisen oder dem Dachs verbunden sind, und die, in ihrem Charakter und Verhalten auch die Eigenschaften ihres jeweiligen Schutztieres aufweisen. Der Schamane, der den Hirsch als Verbündeten hat, der »Hirschträumer«, wird robust und gesund sein und genießt – wie ein Hirsch mit seinem Harem – die Liebe vieler Frauen. Er kann kranke Frauen heilen und ist in Besitz von Liebesmagie, die Jungen und Mädchen zusammenführen kann (Lame Deer 1976: 155). Der Büffelschamane ist ein großer Seher, einer, der wie ein Büffelstier seinen Stamm sicher führen kann. Der Schlangenmedizinmann, der meistens durch den Biss einer Giftschlange berufen wurde, hat Verbindung zu diesen Reptilien, er kennt die Kräuter und Gesänge, mit denen Schlangenbisse kuriert werden. Die Seele des Wolfsschamanen ist rein wie frisch gefallener Schnee, sie vermag weit in die Wildnis der Geisterwelt zu wandern. Der Hasenmedizinmann ist sehr klug, aber er kann auch, wie ein Hase, vor Schreck sterben (Garrett 2003: 29).

Unter allen Medizinleuten hat der Bärenschamane oder Bärenträumer eine ganz besondere Stellung. Der Bär ist nämlich ein ganz besonderes Tier oder besser, er ist schon fast wie ein Mensch. Ein »Halb-Mensch«, Ukuku, nennen ihn etwa die Quechua sprechenden Indianer in den Anden. Wie Bärenkenner immer wieder berichten, ist jeder Bär eine individuelle Persönlichkeit. Er ist jedoch nicht, wie die menschliche Persönlichkeit, ein abgekapseltes Egowesen, gefangen in einem Netz kulturell vorgegebener, verbaler und symbolischer Konstruktionen. Trotz seiner ausgeprägten Individualität bleibt der Bär innig verbunden mit seiner makrokosmischen Gruppenseele, mit dem großen Bärengeist, mit der Natur. So ist er wie ein Vermittler zwischen den Welten. So haben ihn auch viele Naturvölker erlebt. Für sie ist der Bär kein bloßes Tier; unter seinem Fell verbirgt sich ein göttliches Wesen. Für viele indianische und sibirische Völker, für die Ostjaken, Tungusen, Samojeden und Finnen, ist der Bär ein Mittler zwischen dem Himmelsgott und der Erdgöttin. Der Bär, das Tier der Erde und der Höhlen, ist der Erdgöttin und der fruchtbaren weiblichen Sphäre zugeordnet. Zugleich aber ist er auch der himmlischen Sphäre, der oberen Götter, den befruchtenden Wettergottheiten zugeordnet. Er ist, wie der echte Schamane, Teil von beiden Welten. Er ist Waldtier und Waldmensch. Er ist der kraftvolle Hüter der Pforten zur Anderswelt. Er ist Bote der Götter und als solcher ein wohlwollender Besucher der mittleren Welt, in der die Menschen leben.

Der Bärenschamane hat teil am Wesen des Bären. Als Zeichen dieser Verbundenheit trägt er Bärenmasken, Bärenfell oder ein Halsband oder Amulett aus den Zähnen oder Krallen seines Tiergeisthelfers, und er besitzt auch dessen grimmige Macht, mit der er auch die übelsten Krankheitsdämonen in Angst und Schrecken versetzen kann. So ist ein vom Bärengeist berufener Schamane einer der mächtigsten Heiler. Bei den Kirati, einem im Osten Nepals angesiedelten Stamm, der noch eine alte schamanische Naturreligion befolgt, gilt der Bär (Balu) als der Großvater der Schamanen. Die Bärenkralle, die ihre Schamanen bei sich tragen, gilt als Talisman, als Guru und als Schutz (Müller-Ebeling/Rätsch/Shahi 2000: 177). Als Trommelhäute bevorzugen sie die Haut des Bären. Der Ethnologe Christian Rätsch berichtet, dass Bärenteile nicht von lebenden Bären oder erjagten Exemplaren genommen werden. Um wirklich gut zu wirken, muss der Schamane sie während der Trance finden (Müller-Ebeling et al. 2000: 251). Selbst die Rinde, von einem vom Bären angekratzten Baumstamm, vermittelt noch Kraft. Die Schamanen der mongolischsprachigen Burjaten, die östlich des Baikalsees leben, trocknen und zerkrümeln diese Rinde, um ihren Räucherkräutern besondere Bärenkraft zu verleihen.2


Bärenschamanen: links altsteinzeitliches Ritzbild aus La Marche, Vienne, Frankreich; rechts die bekannte Darstellung eines tungusischen Schamanen mit Bärenpfoten (Nicolas Witsen, 1705).

Der Bär

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