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Bärenhöhlen und Neandertaler

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»Europa. ›Der Westen‹,

da sind die Bären verschwunden,

außer vielleicht Brünhilde?

Oder die Wiedergeburt älterer wilderer Göttinnen

– rasend

durch die Straßen Frankreichs und Spaniens

mit Maschinenpistolen –

In Spanien

Bären und Bison,

Rote Hände, an denen Finger fehlen,

Rote Pilzlabyrinthe;

Blitzstrahlnetze,

in Höhlen gemalt,

Underground.«

Gary Snyder, Der Weg nach Westen, Underground

Der dicke Carlo wohnt abseits am Waldrand in einer säuberlich herausgeputzten Köhlerhütte. Dort hat er sich auch eine Schmiede und Werkstatt eingerichtet. In dieser arbeitet er auf seine brummelige, gemütliche Weise vor sich hin, probiert ungewöhnliche Metalllegierungen, schnitzt an Knochen, Hörnern und Geweihstückchen und schleift die hier und da gesammelten, glitzernden Steinchen zu wertvollen Schmuckgegenständen. »Müllbär« nennen ihn so manche, denn nicht selten durchstöbert er die Abfallhalden nach brauchbaren Gegenständen, und jeder Sperrmülltag bedeutet einen Beutezug für ihn. Er selbst gibt sich als »freischaffender Künstler« aus, ein Etikett, das es ihm erlaubt, in aller Würde ein ungewöhnliches Leben zu führen.

Eines Tages tuckerte dieser Carlo mit einer Fuhre Winterholz an unserem Hof vorbei. Er hielt an, um uns einen guten Tag zu wünschen. Ja, ’s Tässli Kaffee würde er schon nicht abschlagen. Aber nicht extra einen kochen. Kalter Kaffee sei ihm recht, nur müsse etwas Zucker drin sein.

»So, du Bücherschreiber, kannst die Blätter nicht an den Bäumen lassen, was?«, zwinkerte er mir zu. »Woran schreibst du denn im Augenblick?«

Ich erzählte ihm von der Stadt Bern, den vielen Bärengaststätten und Bärenbrunnen, dem Bärengraben mit lebenden Petzen drin und dass diese Stadt vor genau achthundert Jahren von dem Herzog von Zähringen gegründet worden war, nachdem dieser in einem Buchenwald an der Aareschleife einen Bären erlegt hatte.

»Nun ist mir etwas Eigenartiges passiert«, redete ich weiter, »als ich aus Bern zurückkam und hier durch diesen Wald den Berg hinaufwanderte. Wahrscheinlich war ich von der langen Reise übermüdet, hatte ja kaum geschlafen. Jedenfalls war mir zumute ... ja, wie soll ich sagen ... als ginge ich durch einen Märchenwald. Und plötzlich spricht dieser Wald zu mir – diese Tannen und Buchen, diese Farne und Felsen – und sagt, es sei so traurig, dass es hier keine Bären mehr gäbe!«

Ein schwer zu deutender Blick schoss aus Carlos Augen, aber er schwieg, nahm nur einen Schluck aus der Tasse.

»Ja, und dann, in der Nacht, träumte ich sogar von einem riesigen Bären. Ich träumte, er stehe über unserem Bett und lecke unserem Sohn das Gesicht. Und im selben Augenblick wacht der Bub weinend auf!«

»Hm«, brummte Carlo und stich sich dabei über den Bart.

»Es ist sonderbar«, fuhr ich fort, »denn auch meine Frau Marie träumte von einem solchen Tier, einem mächtigen Koloss, der mit den Tatzen fuchtelte, wobei helles Licht aus seinen Krallen aufblitzte, als schlage er Funken aus der Luft!«

»Da willst du also den Leuten etwas über Bären erzählen«, sagte Carlo mit ruhiger Stimme, in der dennoch eine gewisse Erregung mitzuschwingen schien.

»Ja, das stimmt. Weißt du etwa etwas über Bären?«, fragte ich ihn, ohne irgendeine bedeutsame Antwort zu erwarten. Schließlich hatte er die Schulmauern hauptsächlich von außen gesehen und mit dem Lesen hatte er auch nicht viel am Hut. Doch er blickte mich an, als wäre er bereit, mir ein wichtiges Geheimnis zu verraten.

»Weißt, Bären sind wie Menschen. Sie haben Seelen wie Menschen. Nur, eben wie die Menschen von ganz früher, als diese noch frei und wild in der Natur lebten, ehe sie eng und ängstlich wurden und sich von anderen Lebewesen absonderten. Verstehst? Schau, da drüben, der Säntis ...«

Ich schaute über die Bodenseesenke, hinüber ins St. Galler Land und ins Appenzell, das von unserem Allgäuer Berghof aus gut zu sehen ist. Opalblau leuchtend ragte der Schneeberg in den Himmel empor.

»Da sind Höhlen. Drachenloch, Wildenmannlisloch, Wildkirchli und so ähnlich heißen sie. Da haben die Neandertaler, die frühen Steinzeitmenschen, friedlich mit den Bären zusammengelebt. Damals verstanden die Menschen noch die Sprache der Tiere. Primitiv nennt man die Neandertaler, blöd und kulturlos, dabei sind wir die Primitiven oder eigentlich die Degenerierten! Primitiv heißt nämlich mit dem Ursprünglichen, mit der Natur verbunden sein.

Eigentlich machten diese Neandertaler keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Menschen und Tieren, zwischen Menschen und Bären schon gar nicht. Selbstverständlich galt der Bär, der mit ihnen die Höhlen teilte, als besonders mächtig, als heilig. Er konnte ihnen Schutz gegen Wölfe oder heißhungrige Säbelzahntiger gewähren. Die Höhlenmenschen behielten auch die Schädel und Knochen der Bären und bestatteten sie sorgfältig, damit der Bärengeist bei ihnen bleibe. Und wenn sie Bären jagten, um warme Pelze zu bekommen oder Bärenschmalz für ihre Wunden und Krankheiten, dann taten sie es nur mit der Erlaubnis des Bärengeistes, und auch nur zu ganz bestimmten Zeiten. Dann tranken sie auch das Blut des erlegten Tieres, um sich dessen Macht anzueignen. Die Krallen hängten sie um den Hals ihrer Kinder, damit der mächtige Bärengeist auch sie vor allen Gefahren schütze.

Ja, diese Menschen lebten mit den Bären! Das gibt es übrigens auch noch bei einigen primitiven Jägervölkern irgendwo in Ostasien, dass sie sich einen Bären als geehrten Gast im Dorf halten!«

Carlo sprach, wie einer, der das alles selbst erlebt hatte, entweder als Neandertaler oder als Höhlenbär. Er sprach mit der Autorität eines Sehers. Bären als Freunde und Wohngenossen der Steinzeitmenschen! Ähnliches behaupten die Theosophen und andere Esoteriker. Im »atlantischen Zeitalter« seien die Menschen hellsichtig gewesen. Mit Göttern und Heroen seien sie einhergeschritten und mit den »Gruppenseelen« der Tiere hätten sie ohne Furcht oder Aberglaube verkehren können. Mittels Kulthandlungen, Riten und Zeremonien hätten sie mit ihnen, und auch mit dem Bärengeist, kommuniziert. Aber welcher seriöse Wissenschaftler kann solche Aussagen schon ernst nehmen?

Die Professoren, bei denen ich Urgeschichte studiert habe, hatten das grundsätzlich anders gesehen. Da war stets vom unerbittlichen Kampf ums Überleben die Rede, von Konkurrenzkämpfen mit den zotteligen Ungeheuern um den Besitz der schutzgewährenden Höhlen, von tierähnlichen Hominiden, die mit Rauch und Lärm, Fallgruben und niederrollenden Felsbrocken den Tieren diese Orte streitig machen wollten. Survival of the fittest (»Überleben des Stärkeren«), hieß demnach die Parole der Steinzeit. Nicht nur den Wohnraum wollten sie dem Bären streitig machen, sie gierten auch nach seinem Fleisch und Fett, um sich den ständigen Hunger vom Leibe zu halten. Sie begehrten seine Knochen, um Schaber und Dolche daraus anzufertigen, seine Sehnen als Bindfäden, seinen Pelz als Decken, seine Unterkiefer als Schlagwaffe, seine Zähne als magische Anhängsel. Schon immer sei der Mensch der skrupellose Ausbeuter, der ewige Homo oeconomicus gewesen!


So stellt man sich die Neandertaler bei der Jagd auf den Höhlenbär vor.

Irrationaler Aberglaube oder Furcht hätte diese Frühmenschen dazu getrieben, Bärenschädel zu bestatten und Bärenbilder an die Höhlenwände zu kritzeln. Von »Abwehrzauber« sprechen die Kulturanthropologen, und die Psychologen entdecken darin den gesicherten Beweis für die damals schon grassierende Urangst.

War es nun so, wie es Carlo – der mir immer mehr wie ein Mensch gewordener Bär vorkam – erzählt hatte? Oder hatten die hochgelehrten Professoren Recht? Übertrugen diese etwa ihre eigene Raffgier und ihre Angst vor der Natur, auch der eigenen inneren »wilden« Natur, auf Bär und Wildmensch? Dienten die spärlichen Funde, die Ausgrabungen und Höhlenforschungen zutage förderten, als Projektionsflächen eines doch nicht so eindeutig objektiven Weltbildes?

Der Bär

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