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Die goldenen Bären

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Sir Francis Drake, der im 16. Jahrhundert im Auftrag Ihrer Majestät, Elisabeth I. von England, die Weltenmeere umsegelte und zahllose spanische Galeonen um ihre Goldfracht erleichterte, gelangte unter anderem auch an die Küste Nordkaliforniens. Dort entdeckte er eine herrliche Parklandschaft, in der schlichte, freundliche Menschen lebten. So glücklich und gesund erschienen sie ihm, dass er sie »arcadian people« (arkadisches Volk) nannte und das schöne Land mit keinem anderen vergleichen konnte als mit dem klassischen Arkadien, jener griechischen Provinz, in der einfache Hirten in Frieden und Anmut lebten. Mit seiner Wortwahl hatte der alte Seeräuber (nichts anderes war Sir Francis Drake in den Augen der Spanier) genau ins Schwarze getroffen, denn Arkadien heißt »Land der Bären«. Und Bären gab es außerordentlich viele in der nordkalifornischen Wildnis. Besonders schöne Bären waren es, mit goldgelb glänzendem Pelz. Die weißen Siedler, die später ins Land kamen, nannten sie die »goldenen Bären«. Dieses amerikanische Arkadien war ein gesegnetes Land mit mildem, regenreichem Klima. Seine mit blumigen Wiesen durchsetzten Eichen-, Manzanita- und Madronenwälder gingen in höheren Lagen allmählich in Tannenwälder über und boten Menschen und Bären – deren Geschmack gar nicht so verschieden ist – ein reichhaltiges Nahrungsangebot.

Eicheln von verschiedenen Eichenarten bildeten die Hauptnahrungsquelle für Menschen und Bären. Die Indianer sammelten die Früchte, zerrieben sie zu Mehl und füllten es in feinmaschige Körbe, die sie in fließendes Wasser hängten, um die unbekömmlichen Bitterstoffe und die Gerbsäure herauszufiltern. Das so behandelte Eichelmehl bewahrten sie über den Winter auf und verwendeten es, um Suppen zu kochen und »Brot« zu backen. Die Bären taten es sich leichter. Sie fraßen sich mit den rohen Eicheln einen dicken Wanst an und konnten sich dann den ganzen Winter über unbekümmert auf die faule Bärenhaut legen.

Das Nahrungsangebot war aber nicht auf Eicheln beschränkt. Zahlreiche Fischarten, Flusskrebse und Kleintiere sowie die nahrhaften Samen vieler Wildgräser, Wurzeln, wilde Zwiebeln, ölhaltige Pinienkerne, Pilze, Beeren, die erdbeerähnlichen Früchte des Madrone-Baumes, Kastanien und die süß-sauren Manzanitafrüchte bereicherten den Speisezettel und sorgten für eine Fülle, die es den Menschen erlaubte, ohne schwere Arbeit und ohne komplizierte Technologie nicht nur zu überleben, sondern ein wahrhaft gutes Leben zu führen.

Den goldenen Bären ging es ebenso. Auch sie konnten sich ohne jede Rivalität mit den Menschen ungehindert entwickeln und eine beträchtliche Population aufbauen. Es war wirklich ein Paradies – ein Arkadien. Die einheimischen Indianerstämme achteten die Bären und jagten sie nie, denn sie fühlten sich ihnen nah verwandt.

Bei den Pomo, einem Stamm kalifornischer Ureinwohner, war es der Bärengeist, der die jungen Leute in die verborgenen Geheimnisse des Lebens einweihte und ihnen ihre Aufgaben als Erwachsene offenbarte. Der jugendliche Pomo verbrachte vier Tage splitternackt und ohne Wasser und Nahrung im Wald. In dieser Zeit erschien ihm der Große Bär, prüfte seinen Mut, »tötete« ihn mit Tatzenschlägen, belehrte ihn und gab ihm schließlich das Leben zurück. Die Narben, die die Bärentatzen hinterließen, sollten den so Geprüften sein Leben lang an diese Begegnung erinnern und an die heiligen Lehren, die ihm erteilt worden waren.

Von den Shasta-Indianern, die noch weiter nördlich lebten, wird überliefert, dass sie prinzipiell keinen Unterschied zwischen Menschen und Bären machten. Menschen waren für sie lediglich eine Kreuzung zwischen dem Waldbär und dem Großen Geist. Der Bär war so etwas wie der Vater der Menschen. Wie es zur Menschwerdung kam, erfahren wir aus dem folgenden Mythos dieser Indianer:

Der Große Geist wanderte einst über die Erde, aber sie gefiel ihm nicht, denn sie war verödet und keine Tiere lebten auf ihr. Da hob er trockenes Laub auf und warf es, Zauberlieder singend, in die Luft, woraufhin die trockenen Blätter als bunte Vögel davonflatterten. Nun nahm er den Stock, der ihm als Wanderstab diente, und zerbrach ihn in viele Stücke. Die winzigen Splitter vom unteren Ende des Stabes streute er ins Wasser, wo sie als Fische davonschwammen. Die kürzeren und längeren Stücke verwandelte er in verschiedene Tiere, die nun Wälder, Berge, Steppen und Wüsten bevölkern.

Mit dem oberen Ende des Stabes, das sehr hart und dick war und als Griff gedient hatte, gab er sich besondere Mühe. Er formte daraus die Krönung seiner Schöpfung – den Bären.

Die Bären wurden so groß und stark, dass dem Großen Geist fast bange wurde vor seiner eigenen Schöpfung. Die Goldpelze gingen auf zwei Beinen. Sie konnten sprechen und waren mit ihren Händen genauso geschickt wie später die Menschen. Sie schlossen sich zu großen Sippen zusammen und lebten von der Jagd, indem sie anderen Tieren mit Keulen nachstellten.

Der Große Geist überließ ihnen die Erde und zog sich ins Innere des Berges, des Mount Shasta, zurück. Mitten in diesem Berg liegt ein sonnenhelles Land, in dem alle Götter und Geister zuhause sind. Die Seelen verstorbener Tiere kommen in dieses Land, um Kraft zu sammeln, bis sie schließlich in der äußeren Welt wiedergeboren werden. Unter all diesen Wesen fühlte sich der Große Geist recht wohl.

Eines Tages wütete ein derartig gewaltiger Orkan in der Außenwelt, dass selbst der riesige Berg bebte (Kalifornien ist Erdbebengebiet). Da sagte der Große Geist seiner jungen Tochter, sie solle hinausschauen und dem Wind befehlen sich abzuregen. Sobald das kleine rothaarige Mädchen aus der Felsspalte herausblickte, wurde es von dem wilden Wind ergriffen und zum Fuß des Berges geweht. Welch wunderbare Dinge erblickte sie in der äußeren Welt! Sie staunte und bewunderte alles, bis sie erschöpft unter einem Baum einschlief.

So schlafend fand sie der Bär, der gerade von der Jagd kam. Er packte das hilflose Mädchen am Arm und nahm es mit zu seiner Hütte. Die Bärenfrau hatte Mitleid mit dem hübschen kleinen Wesen und gab ihm von ihrer Brust zu trinken, damit es wieder zu Kräften komme. Die Bären zogen das Kind zusammen mit ihren Jungen wie ihr eigenes auf.

Die Jahre vergingen und das Mädchen wuchs zu einer bezaubernd schönen Jungfrau heran. Der Sohn des Bären verliebte sich in sie und sie heirateten. Die Kinder, die aus dieser Verbindung hervorgingen, waren besonders schön. Sie alle hatten glatte, rötliche Haut und einen besonders feinen Geist – schließlich war ihre Mutter die Tochter des Großen Geistes. Zugleich hatten diese Kinder den Mut und die Stärke des Bärengeschlechts. Das ganze Bärenvolk war hocherfreut über die wohlgeratenen Kinder. Voller Stolz entsandten sie einen Boten, der dem Großen Geist mitteilen sollte, dass seine Tochter nun eine verheiratete Frau und Mutter geworden war.

Als der Große Geist das hörte, war er ganz und gar nicht erfreut, denn all das war ohne sein Wissen und Einverständnis geschehen. Er stürmte rasend vor Zorn zu den Bären hinab. Die alte Bärenmutter starb sogleich vor Schreck, und die anderen Bären wussten weder ein noch aus. Sie heulten und baten um Gnade. Das aber ging dem Großen Geist noch mehr auf die Nerven.

»Schweigt! Schweigt für immer!« verfluchte er sie, und seither können die Bären ihre Gedanken nicht mehr in Worten ausdrücken.

»Auf allen Vieren sollt ihr gehen wie gewöhnliche Tiere«, fuhr er fort, »und statt mit Keulen, sollt ihr nur noch mit Zähnen und Klauen kämpfen!«

Dann trieb er die neue Rasse, die halb Bär, halb Großer Geist war, von den Bären fort. Sie sollten von nun an getrennt leben. Er nahm seine Tochter und verschwand mit ihr im Berg Shasta.

Diese neuen Wesen – halb Tier, halb Gott – waren die ersten Menschen, und da sie von den Bären abstammen, achten echte Menschen den Bären und würden ihm niemals was zuleide tun.

Der heilige Berg Shasta, ein vom ewigen Schnee gekrönter, erloschener Vulkan von 4317 Meter Höhe, thront noch immer still und majestätisch über den Wäldern und Lavagebilden Nordkaliforniens. Die Kinder dieses Berges, die friedlichen arkadischen Indianer und die goldenen Bären, sind jedoch längst verschwunden. Für die Goldgräber, die 1848 wie Heuschrecken in das Land einfielen, waren die Rothäute nichts als lästige, unberechenbare Wilde, die der Zivilisation und dem Fortschritt im Wege standen.

Im Jahr des Goldrausches kam zum ersten Mal der mehrschüssige Hinterlader auf den Markt, eine technische Neuerung, die den Neuankömmlingen das grausame Geschäft der Eroberung wesentlich erleichterte. Für jeden erlegten Bären zahlte die Regierung zehn Dollar. Beim damaligen Wert des Dollar war das ein sattes Zubrot für die Jäger, von denen einige bis zu zweihundert Tiere im Jahr erledigten. Eine Giftkampagne – um 1870 wurden mit Strychnin vergiftete Köder ausgelegt – beschleunigte die Ausrottung. 1922 war das Werk vollendet: Der letzte goldene Bär Kaliforniens wurde erschossen. Ironischerweise wurde der goldene Bär im selben Jahr zum Wappentier Kaliforniens erkoren und ziert noch heute die Staatsflagge.

Der letzte freilebende Ureinwohner des Pazifikstaates wurde 1911 in einem Schlachthof vom Sheriff gestellt und ins Gefängnis gesteckt. Der halbverhungerte, zu Tode erschöpfte wilde Mensch war der letzte der kleinen Gruppe von Yane-Indianern, die sich unter einem Felsüberhang in der Wildnis vor den schießwütigen Weißen versteckt gehalten hatten. »Grizzlybär-Versteck« hatten sie ihre letzte Zuflucht genannt, als wollten sie mit diesem Namen den Geist des einst mächtigsten Bewohners des Landes beschwören. Der Völkerkundler Alfred Kroeber erfuhr aus der Boulevardpresse von dem wilden Menschen und nahm sich – im Namen der Wissenschaft – seiner an. Im Frühjahr 1916 starb der letzte Steinzeitmensch Kaliforniens im Völkerkundemuseum, wo er untergebracht war.

Die Hippies, die in den späten sechziger Jahren in Nordkalifornien ihre Landkommunen errichteten und ihr Marihuana anbauten, hegen noch immer die Überzeugung, dass Mount Shasta ein heiliger Berg ist. Ein bärtiger Waldbewohner erzählte mir, dass Bären und Indianer nun im Berg wohnen und eines Tages wieder erscheinen werden, wenn die Welt nicht mehr so böse ist.


Kalifornische Staatsflagge.

Der Bär

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