Читать книгу Der Bär - Wolf-Dieter Storl - Страница 15

Steinzeitjäger und Bärenschamanen

Оглавление

Nach der Eiszeit tauchten Menschen vom so genannten Cro-Magnon-Typus auf. Auch sie waren Jäger und lebten genauso mit den Rhythmen der Natur wie die Tiere, denen sie nachstellten, und die Pflanzen, die sie sammelten. Im Einklang mit den jahreszeitlichen Wanderungen der Rentiere, Pferde, Wollnashörner, Auerochsen, Büffel und Mammutelefanten zogen sie durch Tundra und Steppe. Gelegentlich schlugen sie, wie es die Wildbeuter hier und da noch immer tun, ihre Sommerlager in jenen waldreichen Gebieten auf, wo, nahe der Schneegebirge, der Regen besonders reichlich fällt und das Land mit süßen Beeren, fleischigen Wurzeln, Nüssen und fetten Insektenlarven gesegnet ist und wo ganze Schwärme von Forellen und periodische Lachszüge die klaren Wasserläufe bevölkern. In diesen Landschaften, die von Biologen als typische »Bärenbiotope« bezeichnet werden, begegneten die nomadischen Zweibeiner ihrem Vetter, dem Petz, auf Schritt und Tritt. Sie befanden sich sozusagen mitten in dessen reichhaltiger Speisekammer.

Wahrscheinlich waren die Sinne jener paläolithischen Jäger sehr viel schärfer als die ihrer zivilisierten Nachfahren – jedenfalls beanspruchten weder nervtötender Großstadtlärm noch die ständige Berieselung durch eine banale Unterhaltungsindustrie ihre Aufmerksamkeit. So konnten sie ungehindert die Tiere, auch den brummigen Zottelpelz, dessen Gäste sie waren, beobachten und gut kennen lernen. Sie verstanden seine wortlose Sprache. Sie konnten die Begegnungen mit dem Bären mit in ihre Träume nehmen und sie in Tanz und Ritual wieder zum Ausdruck bringen.

Sicherlich bewunderten sie die Kraft, Klugheit und natürliche Würde des Bären nicht weniger als die heutigen Jägervölker. Aber er ist auch gefährlich, und sicherlich empfanden sie Scheu, seinen Namen auszusprechen, sie nannten ihn umschreibend »Pelzträger«, »Großväterchen« oder »Großmütterchen«, »das heilige Tier« (wie es die Waldlandindianer noch immer tun) oder »Honigesser«, »Honigtatze«, »Goldfuß«, »den mit Klauen versehenen Alten«, den »bepelzten Greis« (wie ihn die Slawen und Sibirer zu nennen pflegen) und dergleichen. Vielleicht hieß er bei ihnen auch schlicht »der Braune« (indogermanisch *bher, »braun«), wie ihn die nordeuropäischen Stämme nannten. Egal wie man ihn bezeichnete, er galt überall als ein zaubermächtiges, heiliges Wesen.

Das Bärengeschlecht ist in dem breiten Band der Wälder und Tundren von Skandinavien bis Nordamerika, zwischen dem nördlichen Wendekreis und dem Nordpol, zu Hause. Im Zentrum dieses erdumspannenden Kreises, in der Arktis – was übrigens »Bär« bedeutet (von griechisch arktos6) – lebt der weiße Eisbär. (Es ist fraglich, ob man den Eisbären als eine eigenständige Art bezeichnen kann, denn Kreuzungen zwischen Eisbären und Braunbären oder Waldbären sind fruchtbar.)

Am Südrand dieses breiten Gürtels leben die kleineren Lippen- und Kragenbären, in Südamerika der Andenbär. Alle Völker, die dieses große Gebiet besiedelten, die Stämme Europas, Asiens und Nordamerikas, verehrten den Bären in aufwendigen Zeremonien als den unangefochtenen König der Tiere und Herrn des Waldes. Völkerkundler sprechen in diesem Zusammenhang von einem »zirkumpolaren Bärenkult«.

Erst in südlicheren Breiten geht der Bärenkult in den Kult der Raubkatzen über. Hier nimmt dann der Löwe, Jaguar, Panther oder Tiger seine Stelle als König der Tiere und Gefährte der Göttin ein.

Bärenarten

Unter den Großbären (Ursidae), die alle die nördliche Hemisphäre bewohnen, gibt es folgende Arten:

Höhlenbär (Ursus spelaeus): Leider ist dieser mächtige Bär, der in Europa während der Eiszeit und in der Zwischeneiszeit lebte, vor rund 10 000 Jahren ausgestorben. Obwohl dieser Bär überwiegend vegetarisch lebte, überragte er alle späteren Bären an Größe und Gewicht. In der Drachenhöhle bei Mixnitz (Steiermark) fand man die Knochen – im Mittelalter hielt man sie für Überreste von Drachen – von mehr als 30 000 Bären. Der knochen- und kothaltige Lehm wurde im 19. Jahrhundert als Phosphatdünger abgebaut, 60 Güterzüge mit je 50 Waggons wurden damit gefüllt. Auch eine Höhle bei Velburg in der Oberpfalz enthielt so viele Bärenknochen, dass man an die Verwertung als Düngemittel dachte. Diese Höhlen waren reine Bärenhöhlen, es waren über Jahrtausende hinweg die Wohn- und Sterbeplätze der Bären (Dehm 1976: 21). Auch wenn gelegentlich Steinsplitter und Holzkohlenreste andeuten, dass auch die Neandertaler diese Höhlen besuchten, bedeutet das aber nicht unbedingt, dass sie die Bären töteten, sondern dass sie die dort zu findenden Knochen bearbeiteten und nutzten. Wenn sie dennoch den Bär jagten, dann wahrscheinlich nur, während er seine Winterruhe abhielt. Aber dann war der Schnee so tief in den hohen Bergen und der Weg dorthin so beschwerlich, dass sie diese Anstrengungen wohl eher selten auf sich nahmen.7


Höhlenbär. (Rekonstruiert nach Funden von Mixnitz, 1931)

Kurzschnauzenbär (Arctodus): Der amerikanische Kurzschnauzenbär, der ebenfalls vor rund 10 000 Jahren ausstarb, war noch größer als der Höhlenbär. Er war auch kein Pflanzenfresser, sondern ein fleischfressender Räuber, der schnell laufen konnte und, wie Wölfe oder Raubkatzen, den Pferdeherden, Büffeln und Hirschen nachstellte. Vermutlich starb er am Ende des Pleistozäns zusammen mit der eiszeitlichen Großwildfauna aus und wurde zugleich allmählich von den kleineren, aus Eurasien über die Landbrücke Beringia einwandernden Braunbären verdrängt. Der wesentlich kleinere südamerikanische Brillenbär (Tremarctos ornatus) ist ein noch lebender ferner Verwandter des Kurzschnauzenbärs.

Braunbär (Ursus arctos arctos): Der Braunbär, der in den Wäldern Eurasiens und Nordamerikas zuhause ist, ist, wie sein Gebiss andeutet, ein Allesfresser.


Gebiss des Braunbären.

Die meisten Braunbären, etwa 120 000 leben in Russland und Sibirien; in den USA gibt es rund 32 000, in Kanada 21 000 und in kleinen, isolierten Populationen in Europa schätzungsweise 5000 bis 7000. In Irland verschwand der Bär schon während der Bronzezeit; in Mitteleuropa wurde er im 19. Jahrhundert weitgehend ausgerottet. Zu den Unterarten dieser Bären gehören der in Alaska vorkommende größte lebende Bär, der Kodiakbär (Ursus arctos middendorfii), der ausgestorbene Goldbär (Ursus arctos californicus), der blonde Syrische Braunbär (Ursus arctos syruacus) und der gefürchtete Grizzlybär oder Graubär (Ursus arctos horribilis), dessen Habitat sich einst vom Polarkreis bis in die Berge Mexikos erstreckte, der heute aber nur noch in Kanada und dem Nordwesten der USA zu finden ist. Sein Name rührt vom englischen Wort grizzled, »mit angegrautem Haar«, her.

Der amerikanische Schwarzbär (Ursus americanus), nach einer Indianersprache auch Baribal genannt, ist kleiner als der Braunbär. Er kann gut klettern, und da er anpassungsfähiger ist, ist er inzwischen, mit einer Population von rund 500 000, zahlenmäßig der am häufigsten vorkommende Bär.

Der Eis- oder Polarbär (Ursus maritimus) ist ein guter Schwimmer, der mit beachtlicher Geschwindigkeit breite Meeresarme durchqueren kann. Im Vergleich zu den anderen modernen Bärenarten, die sich hauptsächlich von pflanzlicher Kost und Aas ernähren, ist er – wie die Eskimo oder Inuit, die mit ihm sein Revier teilen – ein Jäger, der von Robben, Fischen, Seevögeln und gelegentlich sogar von Rentieren und Karibu lebt.


Eisbär.

Der Kragenbär (Ursus tibetanus) kommt in China, Japan und Nordindien vor.

Der Sonnenbär (Ursus malayanus) ist ein kleiner dickköpfiger, selten gewordener Bär aus den Wäldern von Malaysia bis Burma.

Der Lippenbär (Melurus ursinus), ein kleiner obst- und termitenfressender Bär, ist in Indien, von Bengalen bis Sri Lanka zuhause.

Eine eigene Familie bildet der Bambusbär oder Panda (Ailuropoda melanleuca). Diese auf saftige Bambussprossen spezialisierte ostasiatische Bärenart ist weltweit bekannt als das Wappentier des WWF (World Wildlife Fund).


Verwandt mit den Bären ist auch die Familie der Kleinbären (Procyonidae), zu denen der amerikanische Waschbär (Procyon), gehört.


Waschbär, einen Maiskolben waschend.

Entfernt verwandt mit den Bären sind die Hunde, Wölfe, Marder, Dachse, Skunks und Fischotter. Sie entstammen alle einem gemeinsamen Vorfahren aus dem Miozän.

Im Weltbild der alten Jägervölker galt jede Höhle als ein Schoß, eine Gebärmutter der Erdgöttin. Im Inneren der Erde hütet die Allgebärerin die ungeborenen Tier- und Menschenseelen. Niemand betritt ungestraft ihr in der Tiefe verborgenes Lichtreich, es sei denn, er hat ihren Segen empfangen und ist ihr geweiht. Wie ein Wunder mutet es an, dass der Bär im Winter im Bauch der Erde verschwindet und dann, wenn die Tage wieder länger werden, wie neugeboren, verjüngt oder mit niedlichen Jungen wieder in der Außenwelt erscheint. Daher sah man in dem Braunen vielerorts den Gesandten der Erdgöttin. Er galt als Bote dieser Tier- und Seelenhüterin, die über das Jagdwild gebietet und von deren Gunst alles Leben, auch das der Menschen, abhängt. Man glaubte sogar, dass die Erdmutter – unser Märchen kennt sie noch als Frau Holle – selbst die Gestalt einer Bärin annehmen konnte. Auch ihr Gatte, der Herr des Himmels, konnte als Bär erscheinen. So wird verständlich, warum der Bär den zirkumpolaren Jägervölkern als eine Verkörperung der allerhöchsten Mysterien galt.

Von den Geistwesen berufene, unerschrockene Menschen, die Schamanen, suchten abgelegene Höhlen auf, um mit der Tiermutter oder dem Tierherrn in Verbindung zu treten. Das war keine einfache Angelegenheit, aber es war notwendig, denn diese Geistwesen konnten das Jagdwild in die Außenwelt schicken und es vermehren, oder sie konnten es zurückhalten, dann würden die Menschen hungern.

Wie dem Bären selber, konnte man sich auch der Göttin nur mit äußerster Vorsicht nähern und musste wissen, was ihr gefällt und was sie erzürnt. Indem sich die Schamanen in die Tiefen der Höhlen wagten und dort heilige Lieder sangen, fasteten, trommelten oder in völliger Stille verharrten, wurden sie selbst zu Bären. Sie identifizierten sich mit dem mächtigen Tier. Dann konnte ihnen die Göttin, ihr gehörnter Gefährte, der »Herr des Waldes«, oder auch der Bärengeist selbst erscheinen, sie belehren und in die großen Geheimnisse einweihen.

Ein Tier, das ohne Umstände im Schoß der Göttin ein- und auszugehen vermag, wie ein männliches Glied in der weiblichen Scheide, ist sicherlich auch ein Hüter der Fruchtbarkeit und der Geburt – ein Öffner des Lebenstores. Folglich war die Bärenschamanin immer auch Geburtshelferin. Noch bei den Griechen galt die Bärengöttin Artemis als Beschützerin der in den Wehen liegenden Frau. In einigen slawischen Sprachen wird die neue Mutter noch immer als »Bärin« bezeichnet. Und bei den Cheyenne ist Nako, »Bär«, die formelle Bezeichnung für Mütter. Worte wie »gebären« oder »Bärmutter« (mundartlich für Gebärmutter) scheinen ebenfalls auf solche Zusammenhänge hinzuweisen, sprachwissenschaftlich gesehen entstammen sie aber der indogermanischen Wurzel *bher (»tragen, bringen«), wie auch das englische »to bear a child« (»ein Kind gebären, schwanger sein«).

Schwer zugängliche Bärenhöhlen in den Pyrenäen oder den Alpen, in die sich Schamanen zur »Innenschau« zurückzogen oder zur Einweihung der Jugendlichen in die Stammesgeheimnisse nutzten, waren – was nichts gegen Carlos Vermutungen aussagen soll – Kulthöhlen, keine Wohnhöhlen. Es waren die Kultzentren der Rentier- und Mammutjäger der jüngeren Altsteinzeit. Diese Nomaden, die ähnlich wie die Prärieindianer in Lederzelten lebten, mit Speerschleudern jagten, mit Angelhaken fischten und sauber genähte Lederkleidung trugen, hinterließen tief im Inneren der Kavernen die ersten echten Kunstwerke der Menschheit. Alle jagdbaren Tiere, alle Arten, die die Erdgöttin aus ihrem Höhlenschoß gebiert, wurden abgebildet, unter ihnen auch der Bär. In der Höhle zu Trois Frères beispielsweise entdeckte man die Skizze eines verwundeten Bären, dem ein Blutstrom aus dem Rachen quillt. In derselben Höhle tanzt der »Zauberer« mit langem Bart, Hirschgeweih, Wolfsohren und Pferdeschwanz. Bärentatzen sind seine Hände. Wahrscheinlich ist er der »Herr der Tiere«, der Gefährte der Göttin.

Auch die Herrin der Höhle, die Gebärerin der Tiere und Gefährtin des Bären, wird in der jungpaläolithischen Kunst immer wieder dargestellt. Da findet man kleine, aus Elfenbein, Knochen oder Speckstein geschnitzte Frauenstatuetten, die von den Urgeschichtlern eher scherzhaft als »Venus-Figuren« bezeichnet werden. Es sind keine Mode-Schönheiten, sondern recht fettleibige Gestalten mit prallen Brüsten, fleischigen Hinterteilen und dicken Bäuchen. Ihre überbetonten Geschlechtsmerkmale lassen Gedanken an Mütterlichkeit, Schwangerschaft und Fruchtbarkeit aufkommen.


Der Zauberer von Trois Frères. (Ariège, Frankreich, jüngere Altsteinzeit)


Eine von vielen »Venusfiguren«: die Göttin der Höhle, des Gebärens und der Bären. (Statuette von Montpazier)

Der Bär

Подняться наверх