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Der Lehrer der Heilpflanzenkundigen

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In den Augen der Indianer und vieler paläosibirischen Völker kennen die Bären nicht nur die Heilkräuter, sondern sie können dieses Wissen auch an die Menschen weitergeben. Nicht nur etwa, dass die Menschen diese Tiere beim Ausbuddeln der Wurzeln und Ausprobieren der Kräuter und Rinden beobachten und daraus ihre Schlüsse ziehen, sondern der Bärengeist kann auch dem Heiler oder Schamanen Träume schicken und Heilinspirationen vermitteln. Demjenigen, dem unvermittelt ein Bär im visionären Traum erschient, der ist zum Kräuterheiler oder Pflanzenschamanen berufen. Der Ojibwa-Medizinmann Siyaka erklärte dem Ethnologen Frances Densmore (Densmore 1928: 324): »Der Bär ist oft recht wild und aufbrausend und doch achtet er auf Pflanzen, die bei anderen Tieren kein Interesse erwecken (...) Für uns ist der Bär der Häuptling der Pflanzenheilkunde, und wir wissen, dass ein Mensch, der von einem Bären träumt, ebenfalls zum begabten Pflanzenheilkundigen wird. Der Bär ist das Tier, das am besten die heilenden Wurzeln kennt, da er solche guten Krallen hat, um diese Wurzeln auszugraben.«

Der berühmte Sioux-Medizinmann Lame Deer erzählt, dass der Wicasa Wakan, der Schamane, seine Kraft (»Medizin«) durch eine Vision oder einen Traum erhält, den ihm ein Tierlehrer zuschickt. »Der Medizinmann kann ein Büffel-, ein Adler-, ein Hirsch- oder ein Bärenträumer sein. Unter den vierbeinigen oder geflügelten Geschöpfen, die dem Menschen Kraftträume schenken, ist der Bär der vortrefflichste. Was Medizin betrifft, ist er der weiseste. Wer von diesem Tier träumt, der kann ein hervorragender Heiler werden. Der Bär ist das einzige Tier, das sich im Traum wie ein Medizinmann verhält, der einem Heilpflanzen zeigt und ganz bestimmte Wurzeln mit seinen Krallen ausgräbt. Oft schickt er den Menschen eine Vision von den Heilmitteln, die sie brauchen.«

Die alten Medizinmänner hatten Bärenkrallen in ihrem Beutel. Sie drückten dem Kranken mit der Kralle ins Fleisch, damit die heilende Bärenkraft in seinen Körper eindringen konnte. Die Lieder der Bärenträumer enden mit den Worten Mato hemakiye – »Ein Bär hat mir das gesagt«. Dann wusste jeder, dieser Medizinmann hatte seine Heilkraft von einem Bären erhalten. Das Richten und Heilen von gebrochenen Knochen war eine der besonderen Begabungen der Bärenträumer. »Ja, diese Bärenmedizinmänner konnten heilen! Wir hatten Leute, die waren neunzig oder hundert Jahre alt und hatten noch alle ihre Zähne!« (Lame Deer 1976: 153).


Bärenschamane. (Nach George Catlin, 1841)

Ähnliches erzählte der Medizinmann der Dakota (Sioux), Two Shields, »Der Bär, der weder vor Menschen noch vor anderen Tieren Angst hat, ist zwar übellaunig, aber er ist das einzige Tier, welches im Traum erscheint und uns die Kräuter zeigt, die den Menschen heilen können« (Densmore 1928: 324). Der Tiefenpsychologe würde dazu sagen, wer sich mit dem »Bären« in der Seele, mit seinen tief verschütteten Instinkten verbinden kann und zugleich klare, scharfe Sinne hat wie der Bär, der wird leicht Zugang zum Verständnis der heilenden Kräuter erlangen.

Wie sehr der Bär als Heiler und Kenner der Heilpflanzen verehrt wurde, erzählt eine Geschichte der östlichen Waldlandindianer.

Eines Tages erschien ein alter Mann im Dorf. Er kam mit leeren Händen, war hungrig und krank. Er stank und seine Haut war mit Geschwüren bedeckt. Beim ersten Wigwam rief er: »Helft mir, ich brauche Unterkunft und etwas zu essen.«

Man schickte ihn weg, denn man hatte Angst, er würde womöglich die Kinder anstecken. Beim zweiten Haus erging es ihm nicht anders, auch hier jagte man ihn fort. So ging es im ganzen Dorf, niemand wollte ihn aufnehmen. Einzig beim letzten Haus hatte er Erfolg. Eine arme Frau, die nur wenige Verwandte hatte und in einem winzig kleinen Wigwam am Dorfrand lebte, hatte Erbarmen, lud ihn ein, gab ihm zu essen und einen Schlafplatz. Da er am nächsten Tag noch kränker war als zuvor, versuchte sie ihn mit den ihr bekannten Mitteln zu heilen. Es half nicht, er wurde noch kränker. Nach mehreren Tagen erzählte er eines Morgens, dass der Große Geist ihn in einem Traum eine Heilpflanze sehen ließ, die ihm helfen würde. Der Alte beschrieb die Pflanze ganz genau, und die Frau suchte und fand sie im Wald. Mit einem Gebet und kleinem Ritual erntete sie die Pflanze und bereitete die Medizin. Nachdem er diese zu sich genommen hatte, ging es ihm besser. Nach einigen Tagen war er gesund und wollte sich verabschieden. Doch plötzlich hatte er einen Fieberanfall und wurde abermals krank. Wieder halfen die Mittel, die die Frau kannte, nicht. Er lag schon am Rande des Todes, als er wieder im Traum eine Heilpflanze sah. Wieder holte die Frau das angegebene Kraut, wieder wurde er gesund. Als er sich abermals verabschieden wollte, fing er an zu zittern und musste sich plötzlich übergeben. Wieder war er krank, wieder erträumte er die richtige Heilpflanze. So ging es ein ganzes Jahr lang. Dann – endlich – war er wirklich ausgeheilt. Er stand von seinem Lager auf und drehte sich noch einmal um, ehe er zur Tür hinausging und sagte: »Der Große Geist hatte mir gesagt, es sei jemand in diesem Dorf, dem ich beibringen soll, wie man Kranke mit Kräutern heilt. Ich wurde zu dir gesandt, um dich zu lehren. Das habe ich getan.«

Er schritt hinaus ins Sonnenlicht, und die Frau schaute ihm verblüfft nach. Gerade als der Alte im Wald verschwand, verwandelte er sich in einen großen Bären. Es war der Bärengeist gewesen, der die Frau zur Kräuterheilerin berufen hatte.

Der Bärenschamane oder Bärenträumer ist aber nicht nur ein Meister der Heilkräuter, sondern er kann, wie bei den Germanen, Römern und Kelten, auch die Krieger inspirieren, ihnen Mut, Kraft und Besonnenheit im Kampf gewähren. Hier nun die Geschichte von einem Pawnee-Indianer, der Bärenschamane und Kriegshäuptling war (Spence 1994: 308):


Bärenschamane der Schwarzfuß-Indianer bei der Heilséance. (Zeichnung nach George Catlin)

Im Stamme der Pawnee lebte ein Junge, der Bären gut nachahmen konnte und der tatsächlich einem Bären glich. Seinen Spielkameraden erzählte er, dass er sich in einen Bären verwandeln könne, wann immer er es wolle.

Vor vielen Jahren, noch ehe der Junge geboren wurde, befand sich sein Vater auf dem Kriegspfad. Da, weit weg von zu Hause, traf er auf einen Bärenwelpen. Das Bärchen war so klein und hilflos und schaute ihn so traurig an, dass er es aufhob, ihm einige Tabakblätter um den Hals band und ihm sagte: »Ich weiß, der Große Geist Tirawa wird dich beschützen, aber ich konnte nicht einfach an dir vorbeigehen, ohne dir diese heiligen Tabakblätter zu schenken, um zu zeigen, dass ich dir gut gesinnt bin. Ich hoffe, dass auch mein noch ungeborener Sohn von den Tieren gut behandelt wird, und dass ihr ihm helft, ein großer weiser Mann zu werden.«

Als der Krieger wieder zu Hause war, erzählte er seiner Frau von der Begegnung mit dem kleinen Bären. Da dachte die Frau viel über Bären nach. Die Indianer aber glauben, dass eine schwangere Frau nicht zu lange oder zu oft an ein bestimmtes Tier denken soll, denn sonst würde das Kind diesem Tier gleichen. Und so war es auch. Als der Junge älter wurde, ging er oft allein in den Wald; er war von Bären fasziniert und verehrte sie mit kleinen Ritualen.

Als er erwachsen war, zog er einmal mit einer Truppe Krieger auf dem Kriegspfad gegen die Sioux. Sie waren weit weg von ihrem Pawnee-Dorf, als sie in einer steinigen, von Wacholdersträuchern bewachsenen Schlucht in einen Hinterhalt gerieten. Es gelang den Sioux, alle Pawnee-Krieger zu töten und anschließend zu skalpieren. Viele Bären lebten in dieser Schlucht. Eine Bärin erkannte sofort, dass sich unter den Getöteten auch derjenige befand, der ihnen Rauchopfer gebracht, Bärenlieder gesungen und ihnen anderes Gutes getan hatte. Die Bärin sagte zu ihrem Gefährten: »Lasst uns diesen Menschen wiederbeleben!«

Der Medizinbär antwortete: »Das ist fast unmöglich. Wenn es dunkel oder bewölkt ist, wird es nicht gehen, nur wenn die Sonne scheint. Aber ich werde mein Bestes tun.«

An dem Tag schien die Sonne nur ab und zu. Dennoch legten sie den geschundenen Leichnam auf ein Bett aus Beifuss, bliesen ihm Tabakrauch ins Gesicht, besangen ihn und rieben ihn mit Kräutern ein. Allmählich kam das Leben in den Körper zurück. Endlich war er wieder bei vollem Bewusstsein und sah die beiden Bären. An das, was geschehen war, konnte er sich jedoch nicht erinnern. Die Bären erzählten es ihm und nahmen ihn mit in ihre Höhle, wo sie ihn bis zur vollen Gesundheit pflegten. Sie brachten ihm all ihr Wissen bei – und das war sehr viel, denn Bären sind die weisesten Tiere. Ehe er schließlich in sein Dorf zurückkehren wollte, sagten sie ihm, er solle nicht aufhören die Bären zu imitieren und die Bärenlieder zu singen, denn das würde ihm Erfolg im Leben bringen.

Der Medizinbär, der das Wiederbelebungsritual ausgeführt hatte, sagte noch: »Ich werde dir immer beistehen, Bären-Mann. Wenn ich sterbe, wirst auch du sterben; werde ich alt, so wirst auch du alt werden.« Anschließend deutete er auf einen Wacholderbaum: »Dieser Baum soll dein Beschützer sein. Der Wacholder wird nie alt, immer ist er frisch und schön. Er ist ein Geschenk des Großen Geistes. Wenn ein Gewittersturm kommt, wirst du ihn stillen können; wirf einige Zweige ins Feuer, dann wird kein Unheil geschehen.«

Zuletzt gab er dem Mann eine Bärenfellmütze. Die brauchte er, denn da die Sioux ihn skalpiert hatten, hatte er keine Haare mehr auf dem Kopf.

Als er im Dorf ankam, konnten die anderen es kaum glauben, dass er es war. Man glaubte er sei gefallen. Schließlich erkannten ihn seine Eltern. Nachdem er seine Freunde umarmt und ihnen von den Bären, denen er sein Leben verdankt, erzählt hatte, ging er zu den Bären, die unweit vom Dorf warteten und brachte ihnen Tabak, wohlriechendes Lehmpulver, Büffelfleisch und Flussperlen. Der Medizinbär umarmte ihn und sprach: »Da mein Pelz dich berührt hat, wirst du ein großer Mann sein; da meine Tatzen deine Hände berührt haben, wirst du furchtlos sein; da mein Mund deinen Mund berührt hat, wirst du weise sein.«

Nachdem diese Worte gesprochen wurden, gingen die Bären fort. Es waren wahre Worte. Bären-Mann wurde einer der größten Krieger seines Stammes. Er wurde Medizinmann und brachte den Pawnee den Bärentanz bei, den sie noch immer tanzen. Er wurde alt und genoss hohes Ansehen bei seinem Volk.

Die Geschichte erzählt von der Initiation eines Bärenmedizinmannes. Der Jüngling starb und wurde von den Tieren wiederbelebt, dabei wurde ihm seine wahre Aufgabe im Leben offenbart. Wenn die Indianer einen Bären erlegen, dann führen sie eine ähnliche Wiederbelebungszeremonie aus, damit sich der Bärengeist erneut verkörpern kann.

Der Bär

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