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Das Wesen der Tiere verstehen

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Tiere sind unseren Seelen näher als die schweigsamen Pflanzen oder Steine. Tiere sind, wie wir, verkörperte Seelen. Wie wir leben sie im Spannungsfeld der Gefühle und Emotionen, der Freude und des Leides, der Abneigungen und Zuneigungen. Pflanzen und Mineralien besitzen zwar auch so etwas wie eine empfindsame Seele und einen weisheitsvollen Geist, diese sind aber nicht – wie bei atmenden Tier- und Menschenwesen – an ihre Körperlichkeit gebunden: Ihre »Geist-Seelen« sind weiter entfernt, sie befinden sich außerhalb ihrer physischen Leiber, ausgebreitet in der makrokosmischen Natur. Diese mineralischen und pflanzlichen »Geist-Seelen« sind nicht dem alltäglichen Verstand zugänglich, deswegen kann eine Wissenschaft, die sich nur auf das Messbare, Wägbare und Logische beschränkt, sie nicht wahrnehmen. Schamanen aber haben die Fähigkeit, aus dem alltäglichen Bewusstsein herauszutreten. Wenn sie stark sind – und eventuell einen Bären als Schutzgeist haben –, können sie mit diesen »Geist-Seelen« kommunizieren.

Tiere sind beseelte Wesen. Sie atmen. Ihre Seele fließt mit jedem Atemzug. Gefühle, Stimmungen und Emotionen sind innig mit dem Rhythmus des Ein- und Ausatmens verbunden. Das Wort Tier (altenglisch deor, niederländisch dier, schwedisch djor) entspringt dem Indogermanischen *dheusóm und bedeutet »atmendes, beseeltes Wesen«. Auch das Lateinische animal, animalis (Tier) ist mit dem Begriff anima, animus (Seele, Atem, Wind, Geist, beseeltes Wesen) verwandt. Wenn ein Mensch oder ein Tier aufhört zu atmen, verlässt die Anima den Körper und kehrt in die jenseitige Dimension zurück. Die Lebenswärme verflüchtigt sich, erstarrt liegt der Körper und löst sich in seine stofflichen Komponenten auf.

Die Seelen der Tiere – das weiß jeder Schamane und jeder, der Tiere liebt – sind jedoch reiner, unverfälschter als die unseren. Keine Gedankenabstraktionen, kein »schöpferischer Intellekt«, keine »kulturellen Konstruktionen der Wirklichkeit«, keine Lebenslüge spaltet das Tier von seiner unmittelbaren natürlichen Umwelt ab. Das Tier ist unmittelbar in seine Um- und Mitwelt eingebunden. Nicht Worte und abstrakte Symbolsysteme, nicht die Gedanken, die an ein übergroßes stoffliches Hirn gebunden sind, bestimmen das Verhalten der Tiere, sondern die Gerüche, die Laute und Stimmungen der Umwelt, die Tages- und Mondrhythmen und der Wandel der Jahreszeiten steuern ihre Aktivitäten. Die Natur »denkt« in ihnen. Sie haben teil an der ordnenden Vernunft des makrokosmischen Geistes.

Es ist nicht so, wie die heutige Schulwissenschaft behauptet, dass die zerebral-kognitiven Fähigkeiten des Tieres im Vergleich zum Menschen unterentwickelt oder weniger evolviert sind. Nein, es ist so, dass sich der »Geist« des Tierindividuums größtenteils auf einer anderen Ebene befindet, in einer nichtmateriellen Dimension. Dieser Geist ist nicht ein individualisierter, verkörperter Geist, sondern er hat teil an einem »Gruppengeist«, der – wie es bei den meisten Naturvölkern heißt – beim »Herrn der Tiere« in der »Anderswelt«, bei der »Tiermutter« in der Höhle, im Inneren eines Berges oder auf »unterirdischen grünen Wiesen« zu finden ist. Dieser »Gruppengeist« ist ein spirituelles Wesen; es ist eine Gottheit, ein Deva. Er ist es, der den Schwalben im Spätherbst den Weg in den sonnigen Süden weist, der den Tieren zeigt, wie sie ihre Nester zu bauen haben, sie vor einer Sturmflutwelle oder Erdbeben warnt oder ihnen sagt, welche Pflanzen fressbar sind, welche heilend, welche giftig.

Heute nennt man das »Instinkt«. Das Wort, das im 17. Jahrhundert in die Wissenschaft eingeführt wurde, bedeutet lediglich »Antrieb« (vom lateinischen instinguere, »anstacheln«, »antreiben, so wie der Hirt die Herde mit seinem Stock antreibt«). Wer ist es aber, der die Tiere zu ihrem Verhalten antreibt? Heute glauben wir es zu wissen. Es sei die »genetische Programmierung«, die die angeborenen, stereotypen Verhaltensweisen, die nicht erlernt und kaum durch Lernprozesse abgeändert werden, steuert. Exogene Reize (Wärme, Licht, Düfte usw.) lösen endogene, genetisch verankerte Reaktionen aus – so die gegenwärtige, materialistisch-positivistische, auf genauen Laboruntersuchungen und Messungen basierende Lehrmeinung.

Die Naturvölker haben weder Labore noch haben sie eine experimentelle Methode zur Wissensfindung entwickelt. Ihr Wissen über Tiere beruht auf einem engen, unmittelbaren Zusammenleben mit den wilden gefiederten oder felltragenden Bewohnern ihrer Umwelt. Ihre Gemeinschaft ist eine, die viele Generationen überspannt; Mensch und Tier wissen voneinander, verhalten sich mit-, für- und gegeneinander und bilden eine Lebenseinheit, eine Symbiose. Naturmenschen kennen jeden Laut der Wildnis, sie können auch die feinsten Spuren – Fressspuren im Laub, Abdrücke auf feuchten Böden, Haare, Federn – exakt deuten. Alles haben sie intensiv und genau beobachtet. Aber sie bleiben nicht bei der bloßen äußeren Beobachtung stehen. Sie gehen jenseits der alltäglichen Sinne. Traum, Vision und auch schamanische Techniken – Versenkung, langes Fasten und Wachen, Trance-Tanz und Trommeln und bei einigen Stämmen die Anwendung von Pflanzen, die das Bewusstsein erweitern – verbinden sie mit dem Deva der jeweiligen Tierart, mit dem Tierherrn oder der Tiermutter. Sie hüllen sich in die Haut des Büffels, des Hirschs oder des Bären, ahmen mit Tanzschritten seine Bewegungen nach und singen die Tierlieder, bis sie im Einklang mit ihm sind, bis sich die Grenze zwischen ihrer und der Tierseele auflöst. Sie fliegen dann als Rabe, Nachteule oder Milan, sie schwimmen als Delphin, laufen als Wolf mit der Meute durch Tundra oder Prärie, oder als Hirsch mit den Hinden (Hirschkühen) durch den Wald. Im Gegensatz zum positivistischen Wissenschaftler, der die Tiere nur von außen beobachtet und ihre Reaktionen misst, erleben sie das Tier von innen heraus.1

Dabei sind nicht unbedingt die Menschen die aktiven Initiatoren dieser intensiven Interaktionen. Wie mir der Cheyenne-Medizinmann Bill Hoher Büffelstier (Tallbull) zu erklären versuchte, sind es meistens die Tiere selber, die den Menschen aufsuchen, ihm Inspirationen, Träume, Hinweise oder Warnungen zukommen lassen. Nicht der Schamane sucht sich sein Schutztier aus, es ist das Tier, das ihn aussucht. Der Anthroposoph Karl König schreibt im ähnlichen Sinne (König 1988: 90): »Das Tier greift tief in das Leben der Menschen, der Mensch entscheidend ins Dasein der Tiere ein. Sie durchdringen einander, und es ist nicht nur Furcht und Aberglaube, welche die Tabus, die Feste, die Zauberhandlungen bedingen. Die Seelenwelt der Tiere selbst, ihre Handlungen, ihr Verhalten, ihre Phantasien und übersinnlichen Erfahrungen durchwirken das Vorstellen, Fühlen und Handeln der mit ihnen lebenden Wilden (Menschen).« Dass Tiere die Menschen telepathisch beeinflussen und steuern können, erlebt man sogar mit den Haustieren: Eine Kuh, die in der Nacht in eine Grube fiel, schickte mir einen Traum – sie erschien in der Gestalt der Kuhgöttin Hathor – und ließ mich wissen, in welcher Not sie war und wo ich sie finden konnte. Lassen wir es zu, ist die Verbindung gegeben: Ich denke an die Ameisen, die mir das Schreiben beibrachten, als ich noch ein dummer Schüler war; denke an die Geier, die meine Seele in den Himmel trugen, oder auch an den Kormoran, der mich spät in der Nacht hinaus ins Moor rief; seine Flügel waren bei einem plötzlichen heftigen Temperatursturz fest ans Eis angefroren, und ich konnte ihn befreien.

Für die Völker, die als Jäger und Sammler oder als simple Ackerbauern leben, ist der »Herr der Tiere« – der archetypische Tiergeist, die Tiergottheit – keine abstrakte Idee, keine Glaubensangelegenheit, sondern Erfahrungstatsache. Der Schamane bildet sich auch nicht ein, dass er mit den Tieren sprechen kann, sondern er tut es. Er bekommt Antworten. Was er erfährt, hat Wirkung in der »wirklichen« Welt. Es ist kein Produkt der subjektiven Fantasie. Der Indianer spricht mit dem »Tierlehrer«, der ihm während der Visionssuche erscheint, und erfährt von ihm seine Lebensaufgabe; der sibirische Schamane spricht mit dem »Herrn der Tiere« und erfährt, wo sich das Wild befindet, das zur Jagd freigegeben wurde; der Eskimo Angakkok besucht Sedna, die Mutter der Seesäuger, um zu erfahren, wo sich die Robben aufhalten. Die Tiergeister zeigen dem Pflanzenschamanen, welche Heilkräuter er zu verwenden hat. Verbündete Tiergeister warnen den Menschen vor Gefahr. (So wurde Phoolan Devi, das Bauernmädchen, das eine Räuberbande führte, durch einen Panther vor dem Herannahen der indischen Polizeitruppe gewarnt.) Tiergeister legen dem Menschen auch Verhaltensregeln und Tabus auf, die es unbedingt einzuhalten gilt. Und immer wieder nimmt eine Gottheit Tiergestalt an.

Selbstverständlich waren auch unsere Vorfahren naturverbunden. Auch sie hatten diesen Zugang zu dem magischen Wesen der Tiere. Märchen, Sagen und der so genannte Aberglauben, der tiefe heidnische Wurzeln hat, geben eindeutiges Zeugnis davon. Immer wieder erscheinen dem Märchenhelden oder der -heldin, neben Feen, Heinzelmännchen und anderen Andersweltlichen, helfende, sprechende Tiere (Meyer 1985: 114). Aschenputtel helfen Tauben und Vöglein bei der unsäglich schwierigen Aufgabe, gute und schlechte Linsen aus der Asche zu lesen; zwei Täubchen im Haselstrauch verraten dem jungen Königssohn, wer die falsche und wer die wahre Braut ist: »Ruck di guck, Blut ist im Schuck ...« Fallada, das edle Pferd, weissagt der Königstochter, die als Gänsemädchen Dienst tun muss. Ameisen helfen den Dummling, dem jüngsten von drei Brüdern, verborgene Perlen zu finden, die Enten helfen ihm, einen im See versenkten Schlüssel zu bergen, und die Bienen zeigen ihm, wer unter mehreren Jungfrauen die wahre Königstochter ist, indem sie an den Lippen saugen, die am süßesten sind. Sie helfen ihm, den die klugen älteren Brüder als einen Dummkopf betrachten, da er immer gut und voller Mitleid mit den Tieren ist. Die Märchen sind voller Beispiele dieser Art. Aber auch die christlichen Sagen und Legenden sind voller Geschichten von Tierverbündeten: Ein Hund und ein Rabe bringen dem von der Pest befallenen heiligen Rochus jeden Tag Brot zu essen, damit er nicht verhungert; dem Gallus tragen die Bären das Holz herbei für den Bau von Kapellen.

Nun, der moderne Zeitgenosse wird wohl eher herablassend lächeln und sagen: »Das sind eben Märchen.« Ja, richtig, das sind Märchen, Märchen im ursprünglichen Sinne des Wortes. Eine Mär (althochdeutsch mari) ist eine Kunde, ein Bericht aus einer andersweltlichen Dimension – etwa im Sinne von Martin Luthers Lied zum Mysterium von Weihnachten: »Vom Himmel hoch da komm ich her, ich bring euch gute, neue Mär.« Märchen beziehen sich nicht auf empirische, wissenschaftliche Fakten, sind aber trotzdem wahr. Sie beziehen sich auf Wesentlicheres, auf die transzendente Natur der Wirklichkeit. Der weisheitsvolle, reine Geist der jeweiligen Tierarten kann nur mittels schamanischer Fähigkeiten begriffen werden. Und echte Märchen und Sagen sind wahrhafte Kunde davon.

Der Bär

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