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Kinder des Bären
ОглавлениеIn ganz Sibirien findet man Völker, die sich rühmen, von Bären abzustammen. So sollen etwa die Ainu die Nachkommen der Bärengöttin und eines Menschen sein, dem sie ihre Liebe schenkte. Einige Stämme berichten, sie seien die Nachfahren von Kindern, die man im Wald ausgesetzt hatte und die dann von Bärinnen gesäugt und großgezogen wurden. Wer Bärenmilch trinkt, wird unweigerlich stark und mutig – ein rechter Ahnherr für Sippen, die etwas auf sich halten! Die Orotschonen, ein Jäger- und Fischervolk an den Ufern des Amur, halten eine mystische Bärin, die in einer Höhle auf der dunklen Seite des Mondes lebt, für die Ahnherrin ihres Stammes. Sie säugt die ungeborenen Menschenseelen, bevor sie zur Erde in den weiblichen Schoß hinabsteigen. Stirbt ein Orotschone, dann kehrt seine Seele zu dieser Bärin zurück.
Die Ewenken (Tungusen), denen wir das Wort »Schamane« verdanken, sind ebenfalls ein sibirisches Volk, das von Fischfang, Jagd und Rentierzucht lebt. Von ihrer Ahnmutter, dem Mädchen Kheladan, erzählen sie folgende Legende:
Kheladan lebte vor vielen, vielen Jahren, zu einer Zeit, als die Jäger den Tieren noch mit zugespitzten Steinen nachstellten. Eines Tages wanderte die junge Frau tief in den Wald, wo ihr viele Tiere begegneten. Als sie den Bären traf, sagte dieser zu ihr: »Töte mich und zerlege meinen Leib! Und dann, wenn du dich schlafen legst, lege mein Herz ganz nah neben dich. Meine Nieren lege an die Herdstelle, wo es schön warm ist und wo die Geister ein- und ausgehen. Meinen Kopf lege auch neben das Feuer. Lege den Zwölffingerdarm und den After dir gegenüber an die Wand. Breite meinen Pelz über den Graben draußen vor der Tür, damit er gut trockne. Die Gedärme sollst du schließlich zum Trocknen an die Äste des Baumes neben der Tür aufhängen!«
Das furchtlose Mädchen tat wie ihr geheißen. Als sie am nächsten Morgen vom fröhlichen Gesang der Waldvögel aufwachte, entdeckte sie, dass statt eines blutigen Bärenherzens ein schöner, kräftiger Mann neben ihr lag. Neben der Herdstelle, wo sie die Nieren hingelegt hatte, lagen zwei hübsche, pausbäckige Kinder, die friedlich schliefen. Der Kopf des Bären hatte sich in einen anderen, älteren Mann verwandelt, der über die Kinder wachte. Und gegenüber, wo sie den Zwölffingerdarm und den After gelassen hatte, schliefen schnarchend eine alte Großmutter und ein Großvater.
Als sie die Tür der Jurte aufsperrte und in die Sonne hinausblinzelte, entdeckte sie, dass sich der zottige Pelz, den sie über den Graben gespannt hatte, in eine Herde fetter Rentiere verwandelt hatte. So viele Rentiere waren es, dass sie das ganze Tal füllten. Die Dünndärme, die in den Zweigen des Baumes hingen, waren zu Rentierhalftern geworden. So hatte das Bärenopfer ihrer Urahnin nicht nur das Geschlecht der Ewenken, sondern auch seine gesamte Lebensgrundlage hervorgebracht.
Andere Ewenkengruppen erzählen die Geschichte ihrer Ahnherrin etwas anders. Sie führen den Ursprung ihres Stammes nicht auf das Bärenopfer, sondern auf die Vermählung des Mädchens mit dem Bären zurück.
Einige Sagen aus Sibirien und Nordamerika erzählen, dass nicht die Menschen vom Bären abstammen, sondern umgekehrt, dass Bären aus den Menschen hervorgingen. In einer Sage der Altai-Türken blieben nach einer Sintflut zwei Menschen am Leben, ein alter Mann und seine Frau. Sie flüchteten in die bewaldeten Berge, aßen Rinden und Wurzeln und verwandelten sich allmählich in Bären. Das ist der Grund, warum die Bären eine fast menschliche Intelligenz besitzen.
Für die Cherokee-Indianer, die im südlichen Appalachen-Gebirge lebten, stammen die Menschen ebenfalls nicht von Bärenahnen ab, sondern die Bären von einem Menschenahnen. Die folgende Geschichte über den Ursprung der Bären hebt die Ähnlichkeit zwischen Bär und Mensch hervor (Mooney 1992: 148):
Vor langer Zeit gab es einen Cherokee-Clan mit Namen Ani-Tsua-guhi. Ein Junge des Clans hatte die Angewohnheit, den ganzen Tag im Wald und in den Bergen herumzuwandern. Er blieb immer öfter und immer länger fort. Nicht einmal die Mahlzeiten nahm er mehr zuhause ein. Die besorgten Eltern bemerkten, dass auf seinem Körper langes braunes Haar zu wachsen begann. (Das war die Wirkung der wilden Kost.)
»Warum stromerst du in den Wäldern und isst nicht einmal mehr mit uns?« fragten sie. Der Junge antwortete: »Ich finde reichlich Nahrung im Wald. Sie schmeckt auch viel besser als der Mais, die Bohnen und der Kürbis, den ihr kocht«, antwortete der Junge,« ihr seht, mir wächst ein Pelzmantel und bald werde ich hier unter den Leuten nicht mehr leben können. Ich ziehe fort. Wenn ihr wollt, könnt ihr mitkommen. Im Wald gibt es genug zu essen für uns alle und ihr werdet niemals mehr arbeiten müssen, niemals mehr ackern und säen und Unkraut jäten.«
Die Eltern berieten sich mit dem Häuptling des Clans. Sie überlegten und kamen zu dem Schluss: »Wir müssen hart arbeiten und trotzdem ist oft nicht genug zum Ernten da. Wir werden sieben Tage fasten und dann folgen wir dem Jungen.«
So kam es, dass der gesamte Clan der Ani-Tsua-guhi das Dorf verließ und in die Wildnis zog. Als die anderen Clans davon erfuhren, schickten sie Boten, um die Ani-Tsua-guhi zu überreden zurückzukommen. Als die Boten sie einholten, waren sie überrascht, dass die Ani-Tsua-guhi schon mit langen Haaren bedeckt waren, wie Tiere. Da sie seit Tagen schon keine durch Menschenhand veränderte Nahrung mehr zu sich genommen hatten, hatte sich schon ihr Wesen verändert. Zu den Boten sagten sie: »Wir kehren nicht um. Wir gehen dahin, wo wir immer zu essen haben. Ab jetzt wollen wir Janu (Bären) heißen. Ihr aber bleibt unsere Verwandten. Wenn ihr einmal hungrig seid, kommt in die Wälder und ruft uns. Dann werden wir helfen, dann werden wir euch unser eigenes Fleisch geben. Ihr braucht keine Angst zu haben, uns zu töten. Nur müsst ihr das Wiederbelebungsritual ausführen und die Stelle, wo unser Blut auf die Erde tropfte, mit Laub bedecken.«
Dann brachten sie den Boten die Gesänge bei, mit denen die Jäger die Bären rufen konnten. Noch heute besitzen die Cherokee diese magischen Gesänge. Die Boten kehrten nun in ihr Dorf zurück. Als sie sich ein letztes Mal umschauten, sahen sie, wie eine Schar Bären im Dickicht verschwand.