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Waldjungfrauen und wilde Bergmenschen
Оглавление»Was uns an den jungen Bären so komisch vorkommt, ist ihre Menschenähnlichkeit in vielen Bewegungen, der gewichtige Sohlengang, das Aufrichten, die Benutzung der Vorderpranken als Hände.«
R. Gerlach, Die Vierfüßler
Für den heutigen Stadtmenschen ist der Bär lediglich ein Tier wie jedes andere. Man kennt ihn aus dem Zoo als tollpatschigen, gefräßigen, überdimensionalen Teddybären oder aus Büchern und Fernsehfilmen als eine drollige, eher dümmliche Cartoon-Figur. Oft verniedlicht, scheint der Bär selbst weniger interessant als all die Phantasien, mit denen man ihn belegt.
Mit der Idee vom »göttlichen Bären« weiß der moderne Städter ebenso wenig anzufangen wie der amerikanische Cowboy oder Rancher, der in diesem Tier geradezu die Verkörperung des Bösen sieht. Für ihn ist der Bär ein gefährliches Raubtier, das Rinder und Schafe reißt. Dabei wollen die Viehzüchter nicht wahrhaben, dass der Bär – ein Aasfresser – das Weidevieh meist gar nicht getötet, sondern das verendete Stück Vieh nur als Erster gefunden und sich eine Mahlzeit daraus gemacht hat. Aber gegen das Schießeisen des Ranchers hat der Bär kein Argument, außerdem zahlt der Staat Schadenersatz für jedes gerissene Tier.
Phantasieobjekt Bär. (Illustration auf einem Notenblatt, England, 1910)
Die Naturvölker, von Kindesbeinen an mit dem Geheimnis der Wildnis vertraut, sehen im Bären vor allem einen Jäger, Fischer und Sammler, wie sie es selbst sind. Das Denken in Schubladen, in denen Menschen, Tiere, Pflanzen und Geister säuberlich voneinander getrennt liegen, das so genannte Zivilisierte pflegen, ist ihnen fremd. Sie sehen den Bären im Wald, aber auch in ihren Träumen und Visionen. Der Bärengeist erscheint in den Séancen der Schamanen, und sie wissen, dass der Bär eine Sprache spricht, die man verstehen kann, wenn man ganz still in das eigene Herz lauscht. Sie kennen den Bären, und für sie ist es kein Problem, in ihm eine »göttliche« Seele zu erkennen oder zumindest eine, die der des Menschen ganz ähnlich ist. So ist es für sie durchaus denkbar, dass ihre Ahnen Bären waren, dass sich eine Bärin der im Wald ausgesetzten Kinder annimmt oder sogar, dass sich ein Bär gelegentlich eine Menschenfrau raubt.
In der Tat, wer könnte dem Bären eine gewisse Menschenähnlichkeit abstreiten? Meister Petz geht nicht, wie die meisten anderen Säugetiere, auf den Zehenspitzen. Er ist ein Sohlengänger wie der Mensch und stellt den ganzen Fuß, von der Zehe bis hin zur Ferse, auf den Boden. Oft stellt er sich aufrecht wie ein Zweibeiner, und wenn er nach dem Winterschlaf seine Höhle verlässt, sind seine Sohlen weich und empfindlich – wie die eines Menschen, der im Frühling zum ersten Mal barfuss geht.
Er hat zwar einen dicken Pelz, aber in den Augen der sibirischen Jäger gleicht der gehäutete Bär in verblüffender Weise einem Menschen. Zieht man einer erlegten Bärin ihren Pelzmantel aus, so sagen sie, gleicht sie einem Mädchen, besonders was Brust, Hüften und Schenkel betrifft.
Sohle und Skelett der Hinterbeine und Fußknochen des Bären.
Bären bauen sich bereits vorhandene Höhlen aus oder graben sich Löcher in Böschungen und bedecken diese mit Ästen, Erde und Grassoden. Im Inneren dieser Höhlen bereiten sie sich ein angenehm weiches Schlafplätzchen aus trockenem Moos, Laub oder Heu. Um die lästigen Zecken und Flöhe zu entmutigen, polstern sie ihr Bett mit Adlerfarn und würzig aromatischen Kräutern. Nicht viel anders haben es die nomadischen Steinzeitmenschen, die vorgeschichtlichen Indianer oder die sibirischen Waldvölker getan. Auch sie bauten sich halb unterirdische Wohnhütten für den Winter, die sie im Sommer verließen, um in ledernen, Tipi-artigen Kegelzelten zu wohnen.