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Einführung

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»Je mehr wir uns auf die Zeit einlassen und mit ihr dahineilen, desto weiter entfernt sie uns vom Währenden. Das gilt auch für die Tiere; nie hat man von ihnen mehr und (gleichzeitig) weniger gewusst. Nie mehr, was ihre Anatomie und ihr Verhalten betrifft. Nie weniger über ihr heiles Wesen, ihren unberührten Schöpfungsglanz, wie ihn Märchen und Mythen als Wunder und wie ihn Kulte als göttlich erfasst haben.«

Ernst Jünger, Hund und Katz, 1974

Etwa fünf Jahre lang lebte ich in bear country in den Rocky Mountains und an der pazifischen Küste Nordamerikas, wo Bären, vor allem Schwarzbären, noch recht präsent sind. Sechs Monate verbrachte ich in der Wildnis von Yellowstone, wo einem Meister Petz nahezu täglich begegnete: Die Düfte der Küche lockten ihn, neugierig schnüffelte er an Türritzen und Abfallbehältern. Man begegnete ihm auf abgelegenen Holzwegen und Wanderpfaden und blieb – eine respektvolle Distanz haltend – bewundernd stehen. Während man nachts am Lagerfeuer döste, hörte man ihn gelegentlich da draußen im Dunkeln schnaufen oder brummen. Man sah ihn mit tollenden Jungen am See planschen, baden oder fischen; man sah ihn genüsslich mampfend in den Beerenschlägen, sah seinen von Heidelbeeren blau gefärbten Kot, seine Sohlenabdrücke im Schlamm. Wenn man viel Zeit in der Natur verbringt, fängt man unwillkürlich an, den Bären so zu sehen, wie die Indianer oder andere naturnahe Völker ihn sehen – als magisches Wesen, als »Mensch« in Tiergestalt, möglicherweise als Lehrmeister, der uns im Traum erscheinen kann und uns an unsere ureigene, unschuldige, wilde Natur zu erinnern vermag. So lernt man Bären anders kennen als im Biologieunterricht, anders als beim Zoobesuch oder Safariurlaub.

Inzwischen lebe ich im Allgäu. Herrliche Berge, Seen und Wälder gibt es hier. Schön ist es hier zu wandern. Aber es fehlt etwas, etwas, was zu dem Land eigentlich gehören sollte: Wolfsgeheul, das in Vollmondnächten Schauer durch die Seele jagt, kreisende Geier über einem verendeten Wildtier und der Bär, der einem gemütlich über den Weg tappt. In unserer überzivilisierten Welt gibt es zu wenig, was einem den Atem verschlägt, was unsere archaische Neandertaler-Seele in Wallung bringt, was in uns die Ehrfurcht vor der Schöpfung zu erwecken vermag. Die virtuellen Bilder der allgegenwärtigen Unterhaltungsindustrie können nie die wahre Natur, die Wildnis, ersetzen. Und so verarmt unsere Seele. Alles ist sicher – zu sicher! –, alles kontrolliert, wissenschaftlich dokumentiert, schulmeisterlich erklärt. Selbst die Berge und Wälder werden zunehmend gebändigt. Hatte doch der alte Squamish-Häuptling See-Yahtlh (Seattle) Recht, als er die weißen Eindringlinge warnte (Seattle 1987: 88): »Was ist der Mensch ohne Wildtiere? Wenn die wilden Tiere alle verschwunden sind, dann wird die Seele an Einsamkeit zugrunde gehen; alles, was den Tieren widerfährt, widerfährt auch den Menschen.«

Nun wollen wir von Bruder Bär und Schwester Bärin erzählen, die uns auf unserem Weg seit der Steinzeit begleiten, die den Schamanen und Medizinleuten Träume und Inspirationen schickten, die den Berserkern Kraft und Mut schenkten und den Heilern Wissen vermittelten. Ich schreibe als Völkerkundler und Kulturanthropologe und streife nicht nur die biologischen und ökologischen Aspekte des Bärenwesens, sondern vor allem die ethnologischen und mythologischen. Aber mein Anliegen ist nicht nur Information. Ich möchte den Bären ins Bewusstsein fokussieren, damit wir ihn wieder ins Dasein träumen können.


Bärenskizze aus einer steinzeitlichen Höhle. (Combarelles, Dordogne; Kultur des Aurignacien)

Der Bär

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