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Eine mysteriöse Frau

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Carlo hatte seinen kalten Kaffee ausgetrunken und sich wieder auf den Weg gemacht. Noch lange schaute ich sinnend auf die Appenzeller Berge hinüber und dachte über Berghöhlen und Neandertaler nach.

Der Neandertaler – eine alte Menschenrasse, vierschrötig, mit starken Knochen, Unterkiefern mit fliehendem Kinn, dicken Wülsten über den Augen und einem Gehirnvolumen, das das der modernen Menschen sogar leicht übertrifft. Während der mittleren Altsteinzeit, also während der Zwischeneiszeit und der letzten Eiszeit, besiedelten die Neandertaler den Nahen Osten, Nordafrika und den Zipfel des asiatischen Erdteils, den man heute Europa nennt.

Vom ersten Neandertalerskelett, das zufällig 1856 entdeckt wurde, glaubten die Experten, es handle sich lediglich um die Reste eines »pathologischen Idioten« oder eventuell um einen Kosaken, der beim Rückzug der Grande Armée Napoleons übriggeblieben und gestorben war. Als dann noch andere ähnliche Schädel und Knochenreste entdeckt wurden, glaubten die Anhänger Darwins, einen Beweis für ihre Evolutionstheorie gefunden zu haben, nämlich ein Zwischenglied zwischen dem modernen Homo sapiens und seinem Affenurahn. Es wurde theoretisiert, dass es sich bei dem Neandertaler um eine minderwertige menschliche Urrasse gehandelt habe, die später im Kampf ums Überleben von dem höher entwickelten Homo sapiens restlos ausgerottet wurde. Als immer mehr Tatsachen zum Vorschein kamen, brach diese theoretische Konstruktion wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Neandertaler kannten nämlich nicht nur das Feuer, sie fertigten auch mit ausgeprägtem Stilgefühl brauchbare Klingen, Hämmer, Schaber und Speerspitzen aus Feuerstein und nähten mit Sehnen und Riemen Pelze zu Kleidung und Zelten zusammen. Sie hatten also eine Kultur, die es ihnen erlaubte, die Schneestürme und krassen Temperatureinbrüche der Eiszeit gut zu überstehen.

Offensichtlich waren sie auch im Besitz einer geistigen Kultur – Erfahrung und ein Wissen um die für uns »unsichtbaren Dinge«. Sie bestatteten ihre Toten mit Grabbeigaben. Mal umlegten sie die Grabstätten mit Wildziegenhörnern (in Usbekistan), mal färbten sie die Knochen der Verstorbenen mit rotem Ocker, mal betteten sie mehrere Tote in ein mit blühenden Kräutern und Wildblumen ausgelegtes Grab (im irakischen Kurdistan). Natürlich haben sich die Wildkräuter nicht bis heute erhalten, aber Pollenanalysen geben sogar Aufschluss über die einzelnen Arten. Es waren vor allem Heilkräuter, die in der Pflanzenheilkunde noch immer eine Rolle spielen. Lange war man der Überzeugung, dass die Neandertaler, ähnlich den Schimpansen oder Gorillas, keine sprachlichen Fähigkeiten besäßen. 1989 fand man jedoch in Kebara (Israel) das sechzigtausend Jahre alte Zungenbein (os hyoideum) eines Neandertalers. Inzwischen besteht kein Zweifel mehr, dass diese Menschen im Besitz von Sprache waren. Auch Musik war ihnen nicht fremd. 1995 entdeckte man in einer Höhle in Slowenien eine 50 000 Jahre alte »Blockflöte« mit vier Fingerlöchern, hergestellt aus dem Oberschenkelknochen eines jungen Bären. Professor Jelle Atema von der Boston University entlockte dieser Bärenflöte sanfte harmonische Töne.

Ganz besonders war das geistig-spirituelle Leben dieser Frühmenschen mit dem Bären verbunden, so dass Urgeschichtler von einem regelrechten Bärenkult der Neandertaler sprechen. Auch die Bären wurden bestattet. An mehreren Fundorten in Europa – in den Karawanken, in Jugoslawien, im fränkischen Jura – findet man Nachweise dieses recht eigenartig anmutenden Brauchs. In Regourdou (Dordogne, Südfrankreich) entdeckten Forscher eine mit Steinen ausgelegte rechteckige Grube, in der sich zwanzig Bärenschädel befanden. Die Grube war mit einer schweren Steinplatte bedeckt. In einem Neandertalergrab fand man auch den Oberarmknochen eines Bären. Spuren deuten an, dass einige Neandertaler in Bärenfelle gehüllt bestattet wurden (Sanders 2002: 153).


Neandertaler beim Errichten eines Bärenaltars. (Zeichnung von Martin Tiefenthaler)


Landkarte der paläolithischen Bärenhöhlen in der Ostschweiz.

Am bekanntesten sind wohl die Funde in den drei Ostschweizer Höhlen Wildkirchli, Wildenmannlisloch und Drachenloch, in denen man die Reste von über tausend Bären fand. Die am schroffen Felsen unterhalb des Säntis auf 1500 Meter gelegene Höhle Wildkirchli diente lange frommen Einsiedlern aus St. Gallen als Klause. Hier soll im 10. Jahrhundert der St. Galler Mönch Ekkehart das Waltharilied geschrieben haben. 1657 errichtete ein Pfarrer vor dem Höhlengewölbe eine Kapelle. Da man immer wieder auf große Knochen und Zähne stieß, war man sich sicher, dass die Höhle einst als Drachenhorst diente. Folgerichtig wurde die Kapelle dem Drachentöter, dem Erzengel Michael, geweiht. Bald nachdem der letzte Eremit, der dort hauste, beim Kräutersammeln im Jahr 1851 tödlich abstürzte, wurde ein Gasthaus vor dem zweiten Höhleneingang erbaut. Zu diesem Gasthaus, das wie ein Schwalbennest an der Felsmauer klebt, stieg 1904 der Konservator des Naturhistorischen Museums von St. Gallen, Emil Bächler, hinauf. Er setzte den Spaten an. Die großen Knochen, die er ausgrub, waren selbstverständlich keine Drachenknochen, sondern die von dem ausgestorbenen riesigen Höhlenbären. Als er auf ein Bruchstück eines Feuersteins stieß, erkannte er, dass auch Frühmenschen hier einst tätig waren (Honoré 1967: 208).


»Knochenaltar« im Drachenloch, Glarner Alpen.

Einige Jahre später stieß Emil Bächler auf einen noch bedeutenderen Fund. An einer steilen Felswand in den Glarner Alpen oberhalb von Vättis, auf 2445 Meter Höhe, liegt das Drachenloch. Hier befindet sich eine der ältesten Kultstätten der Menschheit und der bedeutsamste Nachweis eines archaischen Bärenkults. Neben einer Feuergrube, angefüllt mit Asche, Holz- und Knochenresten und einigen Steinwerkzeugsplittern, entdeckte Bächler einen »Knochenaltar«. Darauf lag der Schädel eines Höhlenbären, durch dessen Jochbogenöffnung ein Oberschenkelknochen gesteckt war. In anderen dunklen Winkeln der tiefen Höhle befanden sich Steinkästen, in denen die langen Beinknochen der Bären aufbewahrt wurden. Eine der Kisten enthielt sieben knochenbleiche Schädel, deren Schnauzen sorgfältig zum Ausgang der Höhle gerichtet waren. Anhand der verkohlten Holzund Knochenreste ließ sich das Alter dieser Steinkästen auf rund 70 000 Jahre schätzen. Damit ist er das älteste bekannte, von Menschenhand gefertigte Objekt (Lissner 1979: 200).

70 000, siebzigtausend Jahre! Man stelle sich vor, was das bedeutet: Vor 2000 Jahren begann unsere Zeitrechnung, vor 2700 Jahren wurde das »ewige« Rom gegründet, vor 4500 Jahren die erste ägyptische Pyramide gebaut, vor rund 8000 Jahren die ersten dorfähnlichen Städte gegründet, vor rund 12 000 Jahren endete die Eiszeit in Nordeuropa. Der Bärenkult ist aber mindestens 70 000 Jahre alt und wahrscheinlich noch viele Jahrtausende älter.

Noch etwas für uns äußerst Interessantes wurde in einer der Neandertalerhöhlen – im Wildenmannlisloch – gefunden. In einer Nische in der Wand dieser Höhle entdeckte man eine aus dem Unterkiefer eines Höhlenbären geschnitzte und polierte Frauenplastik, etwa zwölf Zentimeter hoch.4 Diese Figur, ebenfalls etwa 70 000 Jahre alt, ist die älteste bekannte menschliche Darstellung, in der uns zum ersten Mal das archetypische Bild begegnet, das die Höhle, den Bären und die Frau verbindet – ein Bild, das uns in der Kunst der späteren Steinzeitmenschen, in den Sagen und Märchen vieler Völker und auch in den Träumen, die aus den Tiefen unserer eigenen Seele aufsteigen, immer wieder begegnen wird. Wer ist diese mysteriöse Frau? Wir werden noch Gelegenheit haben, sie näher kennen zu lernen.

Die meisten modernen Urgeschichtler sehen die stämmigen, untersetzten Neandertaler längst nicht mehr als »primitiv« an – weder körperlich noch geistig. Sie waren vollwertige Menschen und werden heute ohne weiteres als Homo sapiens klassifiziert. Und nicht nur das, man nimmt auch nicht mehr an, sei seien von einer ihnen überlegenen Rasse ausgerottet worden. Vielmehr gilt als wahrscheinlich, dass sie teilweise in den Europäern und Nordasiaten, auch in den Indianern, ihre Nachfahren haben.5 Mit anderen Worten: Die Neandertaler sind unsere Vorfahren, und diese unsere Vorfahren verehrten die Bären, hielten Zwiesprache mit ihnen und teilten ihren Lebensraum mit ihnen.

Der Bär

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