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Vielfraß und Feinschmecker

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Der Speisezettel des Bären unterscheidet sich nur geringfügig von dem des Wildbeuters. Sein Gebiss verrät, dass er wie der Mensch ein Allesfresser ist. Beim Fressen führt Meister Petz seine Vorderpfote zur Schnauze – genau wie der Mensch seine Hände.

Der Bär ist ein regelrechter Feinschmecker mit einem Hang zu Süßem und Saurem. Waldhonig, süße und saure Beeren aller Art und den zuckerhaltigen Frühjahrssaft des Ahorns und anderer Bäume, deren Rinde er anritzt, schleckt er mit sichtlichem Behagen. Er wurde sogar beobachtet, wie er Kleeblüten und andere nektarreiche Blumen aussaugte. Als saure Gaumenkitzel kommen vor allem Ameisenlarven und -eier in Betracht. So gerne mag er Saures, dass er sich auf Abfallhalden sogar über weggeworfene Autobatterien hermacht. Dem säuerlichen Duft der Futtersilos auf den Farmen im Westen Nordamerikas kann er ebenso wenig widerstehen wie den Körben der Imker.

Wenn Meister Petz aus dem Winterschlaf erwacht, löscht er zuerst seinen immensen Durst mit frischem Wasser. Dann sucht er sich frisches, saftiges Gras, wilde Zwiebeln, sich gerade entrollende Farnwedel, junge Brennnesseln, Sauerampfer, Pfeilblattwurzeln, Schafgarbenschösslinge, Stinkkohl und anderes zartes Grünzeug. Nebenbei plündert er noch die Nester von Eichhörnchen. Manch halbverhungerter Trapper oder Waldläufer, den im strengen Winter der Rocky Mountains die Vorräte ausgegangen sind, hat ihm dabei zugeschaut und gelernt, wie man die karge Vorfrühlingszeit überlebt. Auch die Urmenschen, so glauben viele, haben sich einiges vom Bären abgeschaut.

Im Sommer ernährt sich der Bär weiterhin von Kräutern und Wurzeln, schlägt Fische mit gezielten Schlägen aus dem Wasser und holt sich Mäuse, Schnecken, Heuschrecken, Raupen, Froschlaich, Muscheln und anderes Kleingetier. Er kratzt in den Ritzen und dreht Steine um, unter denen sich Käfer und Würmer versteckt halten. Die Linsen seiner Augen wirken wie Vergrößerungsgläser – kein einziger dieser Winzlinge entgeht seinem scharfen Blick. Verhaltensforscher in den USA waren erstaunt über die Menge von Motten – bis zu 30 000 pro Tag – die ein Braunbär in den Sommermonaten verspeist.

Alles in allem ist dies eine ausgewogene, eiweißreiche Ernährung, die den Bären gut gedeihen lässt. Einen an das zellophanverpackte Supermarktangebot gewöhnten Stadtmenschen mag allein beim Gedanken an eine solche Kost das kalte Grauen packen, aber für die Naturmenschen, die den Lebensraum mit dem Bären teilen – etwa die Eingeborenen Sibiriens oder Nordamerikas – sind all dies willkommene und leckere Nahrungsmittel. Der Bär lebt vorrangig vegetarisch; 75 Prozent der Nahrungskalorien sind pflanzlichen, der Rest ist tierischen Ursprungs. Wie Ethnologen ermittelten, entspricht dieses Verhältnis auch der Diät der meisten Jäger- und Sammlervölker (Storl 1997: 13).

Auch das Fleisch toter Tiere nehmen die Bären genauso gerne für sich in Anspruch wie die Menschen. Aber während die Menschen es kochen, pökeln oder trocknen, vergraben es die Bären für einige Tage, um es gar und schmackhaft zu machen. In kleineren Portionen mögen Bären auch rohes Fleisch, ähnlich wie der Gourmet sein Steak oder die Inuit, für die ranziges rohes Fleisch mit frischen Maden darin eine besondere Delikatesse ist.

Begeisterte Jäger sind die gemütlichen Petze nicht. Anstatt sich bei der Jagd anzustrengen, nehmen sie lieber das Recht des Stärkeren für sich in Anspruch und stehlen den Wölfen, Pumas und sogar den sibirischen Tigern ihre frisch erlegte Beute. 1996 wurde beobachtet, wie ein Grizzlybär neun Wölfe von einem Hirschkadaver vertrieb. Und Studien in Yellowstone und Glacier National Park zeigten, dass Grizzlybären den Berglöwen (Pumas) bis zu einem Viertel ihrer Beute abjagen (Busch 2000: 85).

Im Herbst mästen sich die Bären mit Bucheckern, Nüssen, Eicheln, den Früchten der Eberesche, Wildobst, Pilzen und anderen Leckerbissen. Bis zu 200 000 Beeren – Verhaltensforscher haben sie gezählt – streift ein Bär pro Tag von den Büschen. In den Weinbergen des alten Roms wurden die Bären zur regelrechten Plage. Für sie war der Weinberg nichts anderes als eine ergiebige Nahrungsquelle.

Bären scheinen einen Gewichtsregulator zu haben, der ähnlich wie ein Thermostat funktioniert und Ernährungsforscher (beispielsweise an der Universität Iowa) brennend interessiert. Im Sommer halten sie ein gutes Normalgewicht und schleppen keine überflüssigen Pfunde mit sich herum. Im Herbst aber stellen sie ihren Stoffwechsel auf das Ansetzen von Speckmassen um. Die Forscher hoffen, aus dieser Studie Erkenntnisse zu gewinnen, die es auch dem Menschen möglich machen, sein Gewicht zu steuern.

Jeder Bär hat sein Heimatgebiet, mit dem er seit seiner Welpenzeit vertraut und innig verbunden ist. Im Gegensatz zu anderen Tieren, die die Grenzen ihres Territoriums markieren und verteidigen, hat der Bär kein festes Revier. Die so genannten Grenzbäume mit Kratzmarkierungen gehören ebenso in den Bereich der Fabel wie der Glaube, ein Bär werde als gestaltloser Klumpen geboren und erst von seiner Mutter in Form geleckt.9 Es gibt jedoch Bäume an strategischen Stellen der Bärenwechsel, an denen Bären sich reiben, um so Geruchsbotschaften für ihre Artgenossen zu hinterlassen. Es sind die Litfasssäulen der Bärenwelt.

Genau wie die Wildbeuter, die nomadischen Jäger und Sammler, ziehen die Bären mit den Jahreszeiten von einem Ort zum anderen. Sie wandern mit der gestaffelten Reifezeit der Beeren und Wildfrüchte in die Berge und höheren Lagen; zur Zeit der Lachszüge begeben sie sich wieder hinab in die Flusstäler. Gibt es an einem Ort ein außerordentliches Nahrungsangebot, dann kommen auch viele Bären auf einmal dort zusammen. Sie verhalten sich jedoch nicht etwa wie Herdentiere, sondern ganz und gar individualistisch. Sie kennen einander persönlich und begrüßen sich. Zum Begrüßungsritual gehören Balgereien, die, auch wenn sie dem uneingeweihten Beobachter recht wild vorkommen, völlig aggressionslos sind. Auch die Jungen balgen sich auf diese Weise beim Spielen, und ebenso tun es die Bären-Liebespärchen. Eine Rangordnung, die auf Größe und Kraft basiert, ermöglicht ein friedliches Zusammenleben der Bären. Der Kleinere zollt dem Größeren gebührenden Respekt.


Symbol mütterlicher Fürsorge: Bärenmutter leckt Neugeborenes, um ihm, wie Fabel und Volksglaube berichten, seine Gestalt zu geben.


Bärenbegegnung im Wald. (Erik Werenskiold, 19. Jahrhundert)

In ihrem Schlaraffenland, dem Beerenparadies oder der Fischfangstelle, dulden sie auch den Menschen. Alte Cheyenne-Indianer erzählten mir, dass einst Frauen, Kinder und Bären am selben Platz Beeren pflückten – gelegentlich sogar vom selben Strauch. Sie konnten sogar den Bären schmatzen hören. Probleme gab es keine, solange sie dem Bären höflich den Vortritt ließen. Wenn sich der Bär bei einer solchen Begegnung mit der Zunge über die Schnauze fährt, bedeutet das nicht, dass ihm beim Gedanken an Menschenfleisch das Wasser im Maul zusammenläuft, sondern dass er mit feuchter Nase seine Gäste besser erschnuppern kann. Nur Angstschweiß mag er absolut nicht riechen, denn das macht ihm als hochsensiblem Wesen ebenfalls Angst.

Der Bärenforscher Helmut Heft, der die Tiere viele Jahre lang in ihrer natürlichen Umgebung erforscht hat, berichtet, dass sich Bären normalerweise »achtsam und gönnerhaft« benehmen und den Menschen in Ruhe lassen. Der Bär sei »ritterlich«, er greife nie von sich aus an. Es sind die schießwütigen, abgestumpften Zivilisationsmenschen, die sich ihm gegenüber aggressiv benehmen. Wird er selbst angegriffen, verteidigt sich der Bär mutig und ist niemals feige. Nur in Gefangenschaft, hinter Gittern, wird er böse und hinterlistig. Die Grausamkeit und Blutrünstigkeit, die man ihm manchmal zuschreibt, liegt aber fast ausschließlich auf der Seite der Menschen. In Abwandlung des Sprichworts könnte man sagen: »Was der Mensch selber denkt und tut, das traut er auch dem Bären zu.«

Der Bär

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