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Bärenahnen
Оглавление»Frauen, hütet euren Schoß vor dem Bären!«
Sibirisches Sprichwort
Bei den Waldlandvölkern ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Clans, Sippen oder auch ganze Stämme als Nachkommen mystischer Bärenahnen bezeichnen. Sie geben an, Bären in Menschengestalt zu sein. Auch in Homers Odyssee wird angedeutet, dass der Superheld Odysseus aus dem Bärengeschlecht stammt. »Bärenähnlich« wird sein Vater genannt, und seine Vorfahren gehen auf Cephalus zurück, der mit einer Bärin den Arkeisios, den »Bärensohn«, zeugte (Sanders 2002: 164).
Den weit verbreiteten Glauben, von einem wilden Tier abzustammen, nennen die Völkerkundler »Totemismus«8 Mitglieder eines Clans oder einer Sippe, deren Ursprung sich von demselben Totemtier herleitet, dürfen selbstverständlich nicht untereinander heiraten – das wäre Inzest oder Blutschande.
Den Mitgliedern einer Sippe sagt man die Eigenschaften ihres Totemtieres nach. Adlerleute haben zum Beispiel Adlernasen und einen besonders scharfen Blick; Wolfleute sind tapfer, wild und ausdauernd; Ameisenleute sind immer beschäftigt; Büffelleute sind stur. Bärenleute sind dickschädelig aber klug, scheinbar langsam und brummelig, doch wehe dem, der sie reizt. Sie sind oft von kräftiger, stämmiger Statur und haben, wie ihre tierischen Verwandten, eine Schwäche für Süßigkeiten. Oft tragen die Angehörigen einer solchen Sippe Namen, die auf ihr Totemtier hinweisen.
Von den Ältesten, Priestern oder Schamanen dieser Clans glaubte man, sie können mit dem Totemtier kommunizieren oder sich gelegentlich sogar in dieses Tier verwandeln und dergestalt durch die Wälder streifen. Selbstverständlich wird ein Totemtier nicht gejagt wie anderes Wild. Das käme dem Mord an einem Verwandten gleich. Sein Fleisch ist tabu, es sei denn, das Tier wird an einem ganz besonderen Tag unter großem kultischem Aufwand erlegt und dann zeremoniell gegessen. In einer solchen heiligen, totemischen Mahlzeit – die von Völkerkundlern gern mit dem Abendmahl der Christen verglichen wird – nehmen die Sippenmitglieder die Kraft, Klugheit und alle anderen Tugenden des heiligen Tieres in sich auf und verbinden sich auf diese Weise erneut mit dem Ahnengeist, der sie segnet und beschützt.