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Jochen Schreiber saß in seinem Büro und studierte zum hundertsten Mal die Krankengeschichte des kleinen Peter. Vor Wochen hatten die besorgten Eltern den Jungen in die Klinik von Professor Winter gebracht. Das Kind litt unter der sogenannten Falott‘schen Tetralogie, einer angeborenen Herzmissbildung.

Bei diesen sogenannten „blauen Babys“ ist der Eingang der aus der rechten Herzkammer kommenden Lungenarterie verengt. Dadurch wird die rechte Herzhälfte überanstrengt, das rechte Herz erweitert sich und verdickt.

Da außerdem auch noch der Aortaeingang falsch angelegt ist, dringt nicht nur frisches, sondern auch verbrauchtes Blut in den Blutkreislauf, der Körper wird nicht mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff versorgt.

Professor Winter war entschlossen gewesen, selbst zu operieren. Aber heute hatte er plötzlich angerufen und sich für den Rest des Tages in der Klinik entschuldigen lassen.

Jochen hatte vergeblich versucht, den Professor davon zu überzeugen, dass nur er die schwierige Operation durchführen könne, aber der Chefarzt hatte abgelehnt.

„Ich kann es nicht, Schreiber“, hatte er gesagt, und seine Stimme hatte unendlich müde geklungen. „Meine Hände zittern. Ich bin am Ende.“

Und er hatte den Hörer eingehängt. Nun saß Jochen hier am Tisch, studierte die Krankengeschichte des Jungen. Manchmal war er versucht, die Operation zu verschieben, ein Blick auf die Tabellen zeigte ihm aber, dass er keine Zeit verlieren durfte.

Energisch richtete er sich auf, drückte die Sprechtaste auf seinem Schreibtisch und bat das Ärzteteam zu sich.

Minuten später drängten sich seine Kollegen ins Zimmer. Fragend sahen sie ihren Oberarzt an.

„Meine Herren“, eröffnete Jochen das Gespräch, „ich habe Sie hierher bitten lassen, um Ihnen zu sagen, dass wir noch heute Nachmittag die Fallot‘sche Tetralogie von Zimmer vier operieren werden.“

Die Ärzte drängten sich näher, ein lebhaftes Gemurmel erhob sich. Jochen brachte seine Kollegen mit einer Handbewegung zum Schweigen.

„Ich werde die Operation durchführen“, fuhr er fort. „Professor Winter hat mich damit beauftragt.“

Betroffen sahen sich die Ärzte an. Als erster meldete sich der Narkosearzt Dr. Gebhardt zu Wort.

„Verzeihen Sie, Herr Kollege“, sagte er leise. „Aber darf man erfahren, warum der Chef nicht selbst den Eingriff vornimmt. Immerhin handelt es sich hier nicht um eine Routineoperation.“

Jochen hatte mit dieser Frage gerechnet. Er senkte den Kopf.

„Der Chef fühlt sich nicht sicher genug“, gestand er. „Er hat gesagt, er könne vorläufig nicht mehr operieren.“

Die Ärzte sahen sich betroffen an. Sie alle liebten und verehrten ihren Chef.

Sie hatten viel bei ihm gelernt, und sie wussten, was es für Professor Winter bedeutet haben musste, seinem Oberarzt eine solche Mitteilung zu machen. Dann siegte ihr Verantwortungsbewusstsein. Diszipliniert begannen sie die Krankheitsgeschichte des kleinen Jungen durchzusprechen. Jeder erhielt seine festumrissene Aufgabe. Fast eine Stunde dauerte die Besprechung, dann richtete sich Jochen auf.

„Ich glaube, das war‘s“, sagte er fest. „Wir können.“

Im Operationssaal war schon alles vorbereitet. Nachdem sich die Ärzte gründlich die Hände gesäubert hatten, konnte die eigentliche Operation beginnen. Dr. Gebhardt hatte seinen gewohnten Platz am Kopfende des Tisches eingenommen und wartete nur auf das Zeichen des Chirurgen.

Mit sicherem Schnitt legte Jochen den Brustkorb frei. Mit einem raschen Schnitt hatte er die Unterschlüsselbeinader getrennt und in die Lungenschlagader eingepflanzt. Dadurch fließt ein Teil des Hauptschlagaderblutes noch einmal durch die Lunge und reichert sich erneut mit Sauerstoff an.

Fragend sah er Dr. Gebhardt an. Der Narkotiseur nickte ihm beruhigend zu. Für einen Moment zögerte Jochen. Er könnte die Operation abbrechen, dem Jungen wäre auf diese Art zunächst einmal geholfen. Aber geheilt wäre er nicht. Es gäbe noch eine Möglichkeit, den direkten Eingriff am Herzen.

Er wusste, dass im Hintergrund des OP die Herz-Lungenmaschine bereit stand.

Die andern Ärzte sahen erstaunt zu Jochen herüber. Warum beendete der Oberarzt nicht die Operation. Was er bisher gezeigt hatte, war doch schon großartig. Warum zögerte er?

Und dann hatte Jochen sich entschlossen. Er wandte sich um, sah seinen ersten Assistenten Dr. Kern an.

„Gehen Sie zur Herz-Lungenmaschine. Ich werde versuchen, das Herz zu flicken.“

Allen stockte für einen winzigen Augenblick der Atem. Aber dann riss sich der Assistent zusammen. Zustimmend nickte er. Die Männer um den Operationstisch wussten, dass es jetzt auf jede Minute ankam. Für die Dauer der Operation am lebenden Herzen übernahm die Maschine die Arbeit.

Jochen beugte sich noch einmal über den Kleinen. Die Haut des Kindes hatte sich nicht verändert, immer noch schimmerte sie krankhaft bläulich. Ich habe recht gehabt, dachte er. Was ich bisher getan habe, hätte nicht ausgereicht. Schnell hatte er die Adern wieder getrennt. Das Kind wurde an die Maschine angeschlossen.

Mit sicherer Hand schnitt das Skalpell in das magere Fleisch des Kleinen, legte den Brustkorb frei. Jochen ließ das Skalpell achtlos fallen, streckte die Hand aus. Die Operationsschwester zögerte. Unwillig sah Jochen hoch.

„Rippenschere“, zischte er.

Die junge Schwester wurde blutrot, reichte ihm das Instrument.

Angelika, durchfuhr es Jochen. Angelika … Dann konzentrierten sich alle seine Gedanken wieder auf die Operation. Vor ihm lag das Herz des Jungen. Unförmig angeschwollen war die rechte Herzkammer. Die Hand von Jochen zögerte. Welch ein Frevel, durchzuckte es ihn, ich kann doch nicht in das lebende Herz eines Menschen schneiden. Und dann wagte er es doch.

Die Scheidewand zwischen rechter und linker Herzkammer wies ein fast Markstück großes Loch auf. Jochen atmete auf. Er hatte recht behalten.

Mit sicherer Hand begann er das Loch zu schließen, die Verengung der Lungenarterie zu erweitern. Die Operation war in ein kritisches Stadium getreten. Bei einem erwachsenen Menschen ist es schon äußerst schwer, eine Ader zu nähen, um vieles schwieriger bei einem Kind. Immer wieder schien die Ader seinen Händen zu entgleiten. Schweiß stand auf seiner Stirn. Aber dann hatte er es geschafft. Die Operation schien gelungen. Er begann die Operationswunde zu schließen.

Auf seinen stummen Wink begann Dr. Kern die Herz-Lungenmaschine abzuschalten. Das Herz des Kindes musste die Arbeit wieder selbst übernehmen. Gebannt starrten die Ärzte auf den kleinen Pilotball am Narkosegerät. Würden die Nähte halten? Hatte das Herz die Kraft, die ungeheure Anstrengung der Operation zu überwinden und wieder zu schlagen.

„Puls schwach, kaum spürbar. Atem flach.“ Die Stimme von Dr. Gebhardt schien kalt und unberührt. Nur die Ärzte und Schwestern hier im OP wussten, wie erregt der junge Arzt war.

„Puls zweiunddreißig.“

Jochen konnte seine Augen nicht von dem kleinen Pilotsack lassen. Er begann sich zu füllen, fiel schlapp in sich zusammen, füllte sich wieder, kräftiger diesmal, fiel wieder zusammen. Der Rhythmus wurde schneller, gleichmäßiger, voller.

„Puls zweiundsiebzig, Atmung regelmäßig.“ Der Triumph war nicht zu überhören.

Jochen richtete sich auf. Sein Gesicht strahlte. Dr. Kern eilte zu ihm, schlug ihm auf die Schulter.

„Sie haben es geschafft, Schreiber“, jubelte er. „Sie haben es geschafft!“

Jochen senkte ergeben das Haupt. Fast andächtig sah er auf seine Hände. Dann richtete er sich auf, schaute in die Runde.

„Ich danke Ihnen allen“, sagte er heiser. „Ich danke Ihnen.“

Mit schnellen Schritten eilte er aus dem OP. Die Sehnsucht nach Angelika hatte ihn wie eine Krankheit überfallen. Warum bist du nicht bei mir, mein Lieb, schrie es in ihm. Warum bist du nicht hier?

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