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Still und unauffällig hatte Angelika ihre Arbeit in dem abgelegenen Flecken aufgenommen. Hier draußen gab es keinen Arzt. Stolzing war ein winziger Marktflecken, tief im bayerischen Wald. Weit verstreut lagen die Bauernhöfe und winzigen Orte. Hier gab es keine Industrie, der Boden war karg, die Menschen hier schien das Wirtschaftswunder vergessen zu haben.

Bauer Huber hatte ihr auf seinem Hof eine kleine Stube behaglich eingerichtet. Der große Ofen verbreitete gemütliche Wärme.

Angelika saß an ihrem kleinen Schreibtisch und fertigte ihren Wochenbericht, der an jedem Montagmorgen durch den Gemeindediener in die entfernte Kreisstadt zum Gesundheitsamt gebracht wurde.

Draußen tobte ein Schneesturm. Hier war der Winter schon mit aller Macht hereingebrochen. Tief verschneit lagen Wege und Straßen da. Die Bauern waren froh, wenn die Arbeit sie nicht zwang, nach draußen zu müssen.

Plötzlich klopfte es an ihre Tür.

Mattes Hubert, der Sohn des Bauern, steckte den Kopf durch die Tür.

„Die Pelegrin schickt nach Ihnen, Fräulein Angelika“, brummte er. „Es war wohl halt so weit.“

Angelika unterdrückte nur mühsam einen Seufzer.

„Es ist gut, Mattes“, sagte sie. „Ich komme. Ich will nur noch warmes Zeug anziehen.“

„Hätt‘ sich auch einen anderen Tag aussuchen können, die Zenzi“, maulte Mattes. „Bei dem Wetter hinaus. Es ist eine Schand‘.“

Angelika musste sich ein Lächeln verkneifen. Sie wusste längst, dass der Bursche sich in sie verliebt hatte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte er sie in Watte gepackt. Aber was half es? Die Kleinbäuerin rechnete mit ihrer Hilfe. Sie durfte jetzt nicht weich werden, nur weil es draußen stürmte und schneite.

„Du darfst der Zenzi keinen Vorwurf machen“, ermahnte sie den Burschen. „Schließlich hat sie sich nicht den Zeitpunkt ausgewählt. Das kommt, wie es kommen muss.“

„Scho, scho …“ Mattes war nicht so schnell zu beruhigen. „Aber wenn Sie mich fragen, ich würd‘ bei dem Wetter nicht herausgehen. Ich net.“

Angelika sah den jungen Mann groß an.

„Und wenn du nun mit einem gebrochenen Bein daliegen würdest, Mattes, und nach mir schickst. Und ich würde sagen: nein, das Wetter ist mir zu kalt. Was wäre dann?“

Verlegen kratzte sich der Mattes den struppigen Kopf.

„Es ist alleweil dasselbe“, knurrte er. „Sie ham‘ Recht, und ich muss die Resi anschirren.“

Noch immer brummend zog er sich zurück. Angelika riss eilig die schwere Tasche vom Schrank. Mit einem Blick vergewisserte sie sich, dass sie alles bei sich hatte. Nur gut, dass ich den Hebammenkurs gemacht habe, dachte sie. Dann fuhr sie in die warmen wolligen Socken. Die klobigen Bergschuhe waren bald angeschnallt. Fest hüllte sie sich in den warmen Lodenmantel.

Als sie vor die Tür trat, schrak sie doch zurück. Man konnte die Hand nicht vor den Augen sehen.

Mattes stand vor der Tür bereit. Die Resi, ein schwerer Ackergaul, war vor den Schlitten gespannt. Angelika lief über den knirschenden Schnee und kletterte auf den klobigen Pferdeschlitten.

Von den Häusern von Stolzing war kaum etwas zu sehen. Der wirbelnde Schnee hüllte alles ein. Nur ab und zu blitzte ein Licht durch die weiße Finsternis.

Irgendwo bellte verloren und einsam ein Hund. Sonst, hörte man nur das Jaulen des Sturmes. Der Schnee verschluckte jedes Geräusch. Augen und Wimpern waren längst verkrustet, jeder Atemzug schnitt ins Fleisch.

Angelika versuchte sich noch tiefer in die warme Decke zu verkriechen. Aber die Kälte war mächtiger. Ihre Hände waren inzwischen gefühllos geworden.

Mattes fluchte leise vor sich hin.

„Ist etwas passiert?“ Angelika musste schreien, uni sich verständlich zu machen.

Der grobschlächtige Bursche nickte grimmig.

„I kann nichts mehr sehen“, brüllte er. „I glaub, dass mir uns verfahren haben.“

Angelika durchfuhr ein eisiger Schrecken. Sie wusste, dass die Kleinbäuerin auf sie wartete. Die Geburt würde nicht leicht werden. Zenzi Pelegrin war eine schwächliche Frau. Sieben Kindern hatte sie schon das Leben geschenkt. Dazu die harte Arbeit auf dem Feld und im Stall. Kein Wunder, dass die Frau nicht viel zuzusetzen hatte.

„Wir müssen es schaffen, Mattes“, drängte sie. „Wir müssen!“

Mattes nickte. „Nehmen Sie die Zügel“, befahl er. „Ich geh mit der Laterne voran.“

Bedächtig wickelte er sich aus den Decken, nahm die Sturmlaterne vom Bock, kämpfte sich durch den immer dichter werdenden Flockenwirbel nach vorne.

Angelika konnte ihn nicht mehr erkennen. Der wirbelnde Schnee schien ihn verschlungen zu haben. Nur das winzige Licht der Sturmlaterne wies ihr den Weg. Die treue Resi trottete brav hinter ihrem Herrn her.

Angelika hatte das Gefühl, als ob Stunden vergangen seien. Die Unendlichkeit der weißen Weite schien weder Zeit noch Raum zu kennen. Einsam und verloren kam sie sich vor.

In der Ferne blitzte ein Licht auf. Wurde wieder verschluckt vom wilden Tanz der Flocken, leuchtete wieder auf.

Minuten später bog der Schlitten in einen winzigen Hof ein. Mattes Huber half Schwester Angelika aus den Decken.

„Mir ham‘s geschafft“, strahlte er. „Die Zenzi wird sich freuen.“

Angelika drückte dem Burschen die Hand. Der Hund in seiner Hütte gebärdete sich wie toll. Die Hoftür wurde aufgerissen, der hagere Bauer spähte in die Nacht.

Erleichtert atmete er auf, als er Angelika erkannte.

„Ich hab schon nicht mehr geglaubt, dass Sie kommen“, stöhnte er. „Die Zenzi quält sieh schon zwei Stunden.“

Angelika riss sich den steifen Mantel vom Leib. Ihre Hände wollten ihr den Dienst versagen. Die plötzliche Wärme brannte wie tausend Nadeln.

„Setzen Sie heißes Wasser auf“, befahl sie. „Und dann brauche ich heiße Handtücher!“

Stumm nickte der Bauer. Die Not und die schwere Arbeit hatten sein Gesicht gezeichnet. Aus seinen Augen leuchtete die nackte Angst. Stumm begann er die Befehle Angelikas auszuführen.

In einer Ecke der großen Wohnküche hockten die sieben Kinder. Das Mariele, die Älteste, hielt die beiden Kleinsten eng an sich gepresst. Aus großen, ängstlichen Augen starrte sie auf Angelika.

„Brauchst keine Angst zu haben, Mariele“, sagte Angelika behutsam und strich dem Kind über das flachsblonde Haar. „Bald wird die Mutti wieder gesund, und ihr werdet ein neues Brüderchen oder Schwesterchen haben.“

Dankbar sah das Kind zu ihr auf. Angelika fühlte, wie die Kraft in ihr wuchs.

Schnell ergriff sie die Tasche und eilte in das stickige Schlafzimmer.

Die Bäuerin wälzte sich stöhnend in ihrem Bett. Angelika setzte sich zu ihr. Ein Blick hatte ihr genügt. Sie wusste, hier war Hilfe dringend erforderlich.

In der Küche war es totenstill. Der Bauer hatte sich an den Tisch gehockt. Mit beiden Händen stützte er seinen Kopf. Ängstlich lauschte er nach nebenan.

Die beiden Kleinsten waren im Arm vom Mariele eingeschlafen.

Die große Uhr an der Wand rückte unerbittlich vorwärts. Mitternacht war längst vorüber. Plötzlich hob der Bauer den Kopf. Auch Mattes, der erschöpft am warmen Ofen eingeschlafen war, richtete sich auf.

Aus dem Nebenzimmer ertönte ein Krähen. Ein winziges Menschlein hatte seinen ersten Schrei getan. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür. Angelikas Gesicht war grau vor Erschöpfung. Aber ihre Augen leuchteten.

„Sie können hereinkommen“, sagte sie fröhlich. „Ihrer Frau geht es gut.“

Der hagere Bauer schämte sich seiner Tränen nicht. An Angelika vorbei drückte er sich ins Zimmer, ließ sich am Bett seiner Frau nieder.

„Es ist ein Junge“, sagte Angelika behutsam lächelnd.

Mattes richtete sich auf. Mit schweren Schritten ging er auf Angelika zu. Als er vor ihr stand, nahm er schwerfällig die Mütze vom Kopf.

„Wissen S‘, was S‘ sind, Schwester“, brummte er. „Ein Engel sind S‘. Und wenn ich das sag, dann können S‘ mir das ruhig glauben.“

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