Читать книгу Zwangsvollstreckungsrecht, eBook - Alexander Bruns - Страница 249

7. Priorität und Rechtsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG)

Оглавление

7.34

Nach dem Prioritätsgrundsatz werden die früher vollstreckenden, „raschen“ Gläubiger voll befriedigt bis zur Aufzehrung schuldnerischen Vollstreckungsguts, spätere Gläubiger gehen leer aus (Rn. 6.37 ff.). Das Gleichrangprinzip beteiligt hingegen alle vollstreckenden Gläubiger anteilig am Vollstreckungsgut des Schuldners und verwirklicht dadurch den Gedanken der Rechtsgleichheit in der Vollstreckung. Vor allem beim Arrestpfandrecht (Rn. 51.4, 52.15) kann das Prioritätsprinzip auf den ersten Blick fragwürdige Effekte hervorrufen[47]. Ist das Prioritätsprinzip verfassungsrechtlich haltbar?

7.35

Man muss sich zunächst klar machen, dass das Prioritätsprinzip des materiellen Rechts (Rn. 6.40) in der Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG) wurzelt: wenn mehrere Individuen abstrakt eine bestimmte Gestaltungsmöglichkeit haben, die konkrete Gestaltung aber nur einmal möglich ist, so bleibt nur die Priorität als Auswahlkriterium rechtlicher Wirksamkeit, soll bei knappen Gütern die Privatautonomie nicht ausgeschaltet sein. Genau gleich ist es mit der verfahrensförmigen Rechtswahrnehmung, wie sie Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip garantieren (Rn. 7.1): nur, wenn bei knappen Vollstreckungsgütern die Priorität gilt, kann die Rechtsschutzgewährleistung überhaupt voll eingelöst werden. Der Gleichheitssatz gemäß Art. 3 Abs. 1 GG erzwingt demgegenüber die Beschränkung der Privatautonomie und der Rechtswahrnehmung, wenn er bei knappen Gütern die Kürzung der Erwerbschance und der Vollstreckungsmöglichkeit verlangt. So prallen bei der Rechtsverwirklichung Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG als grundrechtliche Antipoden in bekannter Weise aufeinander: Entfaltungsfreiheit und Gleichheit können nur in praktische Konkordanz gebracht werden, wenn die freie Entfaltung Ungleichheiten erzeugen darf, umgekehrt aber durch die Gleichheit beschränkt wird.

7.36

Diesen Anforderungen an die praktische Konkordanz zweier Grundrechte wird das einfache deutsche Vollstreckungsrecht gerecht, wenn man Einzelvollstreckung und Insolvenzrecht als Gesamtsystem betrachtet. Ausgangspunkt ist das Prioritätsprinzip der Einzelvollstreckung, das dem sein Recht verfolgenden Gläubiger volle Rechtswahrnehmung belässt und spätere Gläubiger auf den Rest verweist. Es liegt in der Hand der konkurrierenden Gläubiger oder des Schuldners, mit dem Insolvenzantrag der Verteilungsgerechtigkeit des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) Geltung zu verschaffen, wobei dann das Anfechtungsrecht des Insolvenzrechts diese Gleichheit auch rückwirkend herstellt. Ein Vollstreckungssystem, das nur an Priorität orientiert wäre und dem Gleichheitssatz keinerlei Raum beließe, müsste man sicher als nicht verfassungsgemäß betrachten; denn die Möglichkeit insolvenzrechtlicher Aufteilung des Schuldnervermögens ist Bestandteil der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgewährleistung[48]. Dazu gehört auch die praktische Zugänglichkeit des Insolvenzverfahrens für alle Gläubiger, die durch die neue Insolvenzordnung verbessert werden soll[49]. Der Prioritätsgrundsatz der Einzelvollstreckung schafft effektiven Rechtsschutz durch ein einfaches Verfahren (keine Nachverpfändung für neu hinzutretende Gläubiger, keine prophylaktische Überpfändung etc.) und bewahrt die Chancengleichheit der Natural- und Geldvollstreckungsgläubiger (Rn. 6.37 ff.). Insgesamt ergibt sich sonach ein ausgewogenes Gesamtsystem, das Art. 2 Abs. 1, 14 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG gleichermaßen berücksichtigt.

7.37

Dies bedeutet nicht, dass die Einführung des Gleichrangprinzips im deutschen Einzelvollstreckungsrecht verfassungswidrig wäre. Man muss aber sehen, dass sich der Grundsatz der Naturalvollstreckung (Rn. 6.44 ff.) mit dem Gleichrangprinzip, das notwendigerweise auf Geldvollstreckung begrenzt ist, nur eingeschränkt verträgt: Naturalgläubiger und Geldgläubiger hätten unterschiedliche Befriedigungschancen. Die Gleichbehandlung von Natural- und Geldgläubigern und die Einfachheit des Verfahrens sprechen eher für das Prioritätsprinzip (Rn. 6.41 ff., 6.43).

Zwangsvollstreckungsrecht, eBook

Подняться наверх