Читать книгу Handover - Alexander Nadler - Страница 10
Freitag, 18. April 1997, 15:43 Uhr
ОглавлениеDer Blick auf die Armbanduhr verrät Claude, dass es nur noch rund zwanzig Minuten bis Freiburg sind. Eine Woche ist es bereits her, seit er seinen Bruder aufgefunden hat, sieben Tage, die ihn und die Polizei zwar bislang bei der Aufklärung des Falles keinen entscheidenden Schritt weitergebracht haben, dennoch aber wie im Fluge vergangen sind, überwiegend gefüllt mit wirren Spekulationen und Hypothesen, denen heute möglicherweise ein Ende bereitet werden kann. Bei Tempo 130 gleitet, untermalt vom kaum hör- und spürbaren Tacken der Räder, draußen die in frühlingsfrisches Grün gekleidete Landschaft vorbei. Nur wenige flauschige Wolkengebilde verlieren sich am sonst blauen Himmel dieses herrlichen Frühlingstages, dem Claude trotz der stundenlangen Fahrerei bis zu diesem Augenblick praktisch keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, zu sehr war er alten Erinnerungen nachgehangen, in deren Mittelpunkt jene Person stand, die ihn in wenigen Minuten vom Bahnhof abholen wird und die ihn und seinen Bruder in einem nicht unerheblichen Maße mit geprägt hat...
Ein Schmunzeln lief über Claudes Gesicht, als ihm wieder bewusst wurde, dass Julius Thorwald ihn und Philipp schon kannte, als sie beide noch in die Windeln machten. Den Erzählungen seiner Mutter zufolge hatte er sie, wenn Not am Mann war, sogar gelegentlich höchstpersönlich trockengelegt. So etwas verband natürlich, schuf jene enge und überaus herzliche Beziehung, aufgrund derer sich die beiden Brüder von klein auf zu dem Geistlichen fast väterlich hingezogen fühlten, daran konnten auch längere Phasen nichts ändern, während derer sie sich nicht sahen. Wie eng und unverkrampft dieses Verhältnis war, merkten sie jedes Mal, wenn sich ihre Wege nach langer Zeit wieder einmal kreuzten, gingen sie doch in diesen Augenblicken stets so unbefangen miteinander um, als wären sie erst tags zuvor auseinandergegangen. Ja, Julius war schon etwas Besonderes, so dass es auch nicht weiter Wunder nahm, dass er nach dem Tode ihrer Eltern beider Vertrauensperson wurde, der sie, dies wussten sie instinktiv, alles, aber auch wirklich alles blindlings anvertrauen konnten: Julius konnte schweigen wie ein Grab. Und so kritisch sein Bruder und er selbst der Kirche oftmals gegenüberstanden, oder vielleicht gerade deshalb, empfanden sie es als Glücksfall, dass Julius Geistlicher war, verkörperte er für sie doch all jene charakterlichen Eigenschaften, die sie bei vielen anderen Vertretern dieses Standes, insbesondere in den oberen Chargen, schmerzlich vermissten. Abendelang hatten sie zu dritt eben darüber diskutiert, denn mit Julius konnten sie dies, schließlich stand er der Institution Kirche selber kritisch genug gegenüber, was ihm im Laufe der Jahre von Seiten der geistlichen Obrigkeit immer wieder einmal mehr oder weniger scharfe Mahnungen und Verweise eingebracht hatte. Doch war er Diplomat genug und sich seines Standpunktes viel zu sicher, als dass er sich durch derlei Anfechtungen hätte irremachen lassen, denn in seinen Thesen vermochte ihn keiner seiner Dienstherren zu widerlegen.
Und er war es auch zu einem nicht unerheblichen Teil gewesen, der Philipp und ihn in die hohe Schule der Dialektik einführte, sie lehrte alles zu hinterfragen, Obrigkeitshörigkeit abzustreifen, selbständig und selbstkritisch zu denken und zu analysieren, ihre Fähigkeit schärfte, positive Kritik zu üben. Dabei hatte er ihnen von Anfang an klargemacht, dass es bei alledem nicht ohne Blessuren abgehen werde, da die meisten Menschen Kritik, auch wohlgemeinte, nur schwer oder gar nicht ertragen könnten und meist mit Retourkutschen, Diffamierungen oder Hohn darauf reagierten.
Claude erinnerte sich an einen dieser regen Diskussionsabende, bei dem es sich um genau dieses Thema drehte, noch ganz genau. Anlass dazu war damals die Stellungnahme Julius’ zu umweltpolitischen Fragen seiner Gemeinde, die bei etlichen Stellen auf scharfe Kritik gestoßen waren, sowohl auf kommunalpolitischer Ebene als auch in Kirchenkreisen. „Sie haben es halt nicht gerne, dass ich mich als Vertreter der Amtskirche in solche Dinge einmische. Die Politiker, weil sie - angeblich zumindest - eine Verquickung von Staat und Kirche befürchten, und meine lieben Amtskollegen, weil ich mir erlaube auf die kircheninternen Schwachstellen und Widersprüchlichkeiten aufmerksam zu machen, an dem Nimbus der Unfehlbarkeit zu rütteln wage. So ein Schwachsinn, als ob irgendein Mensch unfehlbar wäre. Ich doch genauso wenig wie irgendjemand sonst, Talar hin oder her. Aber es ist immer wieder das Gleiche, jeder fühlt sich gleich persönlich auf den Schlips getreten, kaum einer kann es akzeptieren, dass jemand anderes eine andere Meinung vertritt oder zur Diskussion stellt.“ Julius’ Stimme hatte in diesem Augenblick resigniert geklungen, doch kannten ihn Philipp und er zu gut und wussten, dass er sich so leicht nicht unterkriegen ließ und auf seine Person gemünzte Schmähungen letztendlich gelassen hinzunehmen verstand, da er stets wusste, wovon er redete, denn er war nicht der Typ, der den Mund zu voll nahm, ohne vorher gründlich darüber nachgedacht zu haben, was er eigentlich sagen wollte, wie dies vor allem die gewählten Volksvertreter auf der politischen Bühne bedauerlicherweise allzu oft taten.
„Das erlebst du doch nicht zum ersten Mal“, beschwichtigte ihn Philipp, „Du kennst die Menschen doch weiß Gott noch besser als Claude oder ich. Das Problem ist, dass keiner seine Schwächen, seinen möglichen Irrtum beziehungsweise eine Fehleinschätzung zugeben will. Natürlich ist es einfacher auf den anderen, den Andersdenkenden verbal einzuknüppeln als sich selbst und seinen Standpunkt zu hinterfragen. Dann müsste man sich nämlich endlich einmal klar darüber werden, wer und was man eigentlich ist, welche Rechte und Pflichten man hat, sich und allen anderen gegenüber. Und so viel Gemeinsinn kannst du leider nicht voraussetzen, zumindest nicht beim Gros der Menschheit. Ich kann nur wiederholen, was ich neulich erst gesagt habe: Die Legalisten hatten schon recht, der Mensch ist von Natur aus schlecht, auch wenn dies viele nicht wahrhaben wollen, insbesondere auch deine Kollegen. Mit bloßen Appellen an die Vernunft und Selbstdisziplin kommst du nicht weit, dazu sind wir alle viel zu große Egoisten. Schau dich doch nur um, wie ein jeder sich schamlos zu bereichern versucht, und kaum einer kann den Rachen voll genug bekommen. Natürlich wäre es schön, würden wohlgemeinte Appelle ausreichen, die Realität beweist allerdings tagtäglich, dass es ohne Gesetze nicht geht. Setze die Gesetze auch nur für einen einzigen Tag außer Kraft, ich prophezeie dir, die Welt versinkt im Chaos, nicht nur in den von vielen mit abschätzigen Bemerkungen als ‚unreif’ deklarierten Ländern der sogenannten Dritten Welt, nein auch hier bei uns würden sich die Leute die Köpfe einschlagen, aus Gier, Neid und Eifersucht.“ Philipp war die Erregung deutlich anzumerken gewesen, denn wie Claude aus vielen vorangegangenen Diskussionen wusste, waren sie bei einem zentralen Thema angelangt, über das sich sein Bruder jedes Mal ereiferte, da es ihm trotz seiner zahlreichen derartigen ernüchternden Erfahrungen und dem Wissen darum, dass es so war, partout nicht in den Kopf gehen wollte, warum sich angeblich vernunftbegabte Wesen ständig derart unvernünftig benahmen, dass ihre Existenz dauernd von ihnen selbst heraufbeschworener latenter Gefahr ausgesetzt war.
„Du weißt doch, dass es mit der Vernunft der Menschen nicht so weit her ist“, griff Claude in die Gesprächsrunde ein, das Resümee seines Bruders vorwegnehmend. „Der Mensch war, ist und bleibt Hedonist, daran hat sich seit den alten Römern, ja seit Urzeiten nichts geändert.“ Ein kurzes Stocken, dann fuhr Claude fort: „Wie der gute alte Juvenal auf die Frage nach den Wünschen und Bedürfnissen des Volkes zu antworten pflegte: Panem et circenses. Stimmt doch, oder? Gib den Leuten genug zu essen und verschaffe ihnen ein wenig Unterhaltung, mehr wollen sie doch meistens gar nicht. Aber wehe, du wagst es, ihnen davon etwas wegzunehmen, gar an ihr Gewissen zu appellieren, sie sollen davon etwas zum Wohle aller abtreten! Dann werden sie zu Raubtieren, von Solidarität keine Spur, denn die fordert für gewöhnlich nur derjenige, der unten ist, ist er erst einmal oben, streicht er das Wort in der Regel aus seinem Wortschatz.“
Thorwald nickte zustimmend: „Leider, … auch ich habe mich immer wieder gefragt, warum dies so ist, was man dagegen tun kann, wie man die Leute wachrütteln kann. Gemäß meinem Amt muss ich dies sogar, und ich möchte es auch. Zustimmung, geschweige denn Dank erntet man dafür allerdings nur in den wenigsten Fällen, doch sollten, müssen eben diese Anlass für uns sein, in unseren Bemühungen fortzufahren, trotz aller negativen Erfahrungen. Appelliert nie nur an andere, seid selber Vorbild, versucht es zumindest, denn nur so könnt ihr glaubwürdig sein und bleiben, nur so vermögt ihr eventuell doch den ein oder anderen zum Nachdenken, möglicherweise sogar zum Umschwenken anzuregen.“ Fast missionarisch klangen in diesem Moment seine Worte, nach denen er sein Leben ausrichtete solange ihn die Brüder kannten. Er war kein Schwärmer oder Phantast, er stand mit beiden Füßen voll im Leben und fühlte sich von den Schwächen der um ihn herum Lebenden eher angezogen und motiviert denn abgestoßen. Eben dies war es, was Philipp und Claude an ihm so bewunderten, weswegen sie ihn als hoffnungsvollen, Hoffnung ausstrahlenden und vermittelnden Vertreter seines Standes ansahen, denn nur Männer seines Formates waren ihrer Ansicht nach dazu befähigt, die dringend notwendigen Reformen innerhalb der Institution Kirche in die Wege zu leiten. Thorwald wusste genau, wie kritisch die beiden der Kirche gegenüberstanden, woran sie sich stießen. Und dies zu Recht, wie er ihnen gegenüber auch schon vor längerer Zeit eingestehen musste, denn auch ihm waren die verkrusteten Strukturen und die geforderte uneingeschränkte Hörigkeit mehr als nur ein Dorn im Auge, widersprach doch letztere für ihn, und so sahen es auch die beiden Brüder, geradezu der christlichen Forderung anderen gegenüber Toleranz zu üben, ganz besonders auch Andersdenkenden gegenüber. Doch damit hatte sich die Kirche schon in der Vergangenheit oftmals schwer getan, so ungern sie sich dies auch vorhalten ließ. Doch wie, so hatten sie sich bei vorangegangenen Diskussionen immer wieder aufs Neue gefragt, kann jemand Toleranz fordern, wenn er nicht selbst bereit ist, anderen gegenüber tolerant zu sein, den anderen in seiner Andersartigkeit zu akzeptieren. Solange dieser dadurch niemanden körperlich und psychisch schade, müsse dies oberster Grundsatz eines jeden Menschen sein, zumindest eines demokratisch, freigeistig gesinnten.
„Das ist ja gerade das Problem“, hatte Claude bei einer ihrer Gesprächsrunden bei diesem Punkt eingehakt, „jeder versteht sich bei uns als guter Demokrat, glaubt zumindest, ein solcher zu sein, kaum wird indes von ihm gefordert, sich zugunsten einer demokratisch gefundenen Mehrheit zu beugen, verlieren sich die meisten in zum Teil wüsten Beschimpfungen und hämischen Kommentaren, und einige wenige greifen gleich zur Gewalt. In solchen Situationen muss ich immer wieder an den Ausspruch eines meiner Lehrer denken, dessen mahnender Gehalt zu einem meiner Lebensleitsätze geworden ist. Es ging damals um eine Abstimmung in der Klasse, bei der einer meiner Klassenkameraden, der sich immer als starker Verfechter der Demokratie aufspielte, mehrheitlich überstimmt worden war. Als er das Ergebnis wutentbrannt kommentierte, appellierte eben dieser Lehrer mit folgenden Worten an meines Freundes Demokratieverständnis: ‚Gell Franz, Demokratie ist etwas Schönes, solange man in der Mehrheit ist!’ Ich habe das verdutzte Gesicht meines Freundes, in das schlagartig ein verlegenes Grinsen gemeißelt war, noch genau vor Augen. Ich halte diese Worte nach wie vor für eine der größten Lebensweisheiten, die ich bis heute gehört habe, sie sind quasi zu einer meiner gesellschaftspolitischen Leitlinien geworden, erinnern sie mich doch stark an Sokrates Spruch: ‚Es ist besser Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun!’ Wie einfach wäre es, würde sich jeder diese Lebensmaxime zu eigen machen!“ Der vorwurfsvolle Blick in Richtung des Geistlichen, wurde von jenem richtig interpretiert, wusste er doch, dass er nicht persönlich, sondern die von ihm vertretene Institution gemeint war, die sich diesen Leitsatz zwar gleichfalls auf ihr Fähnchen geschrieben hatte, sich selbst damit bei der praktischen Umsetzung im Alltag aber allzu oft schwertat, obwohl sie es tagtäglich in Predigten von ihren Gläubigen forderte.
„Ich weiß genau, was du meinst, Claude, worauf du anspielst.“ Thorwald wusste um das Dilemma, die Schwächen seiner Mitmenschen und vieler seiner Vorgesetzten. „Aus meiner Erfahrung heraus kann ich dir allerdings nur immer wieder raten: Lege die Latte nicht zu hoch, nicht für dich und nicht für andere, ansonsten wirst du entweder verrückt oder du stumpfst total ab. Verlange nicht zu viel von den Menschen, für derartig hochgesteckte Maximen fehlt es ihnen schlichtweg an Verständnis, dazu sind sie - entschuldige, wenn ich dies in dieser Deutlichkeit sage - mehrheitlich geistig ganz einfach zu beschränkt. Das ist nicht geschimpft, das ist eine Tatsache, auch wenn ich dies als Geistlicher vielleicht nicht sagen dürfte.“
„Du hast ja recht, aber irgendwie regt es mich trotzdem hin und wieder auf, obwohl wir dies schon zigmal durchgekaut haben.“ In Claudes Erregung mischte sich von Wut getränkte Resignation, der er jedoch nicht gestattete, nicht gestatten wollte, dass sie sich seiner bemächtigen könne, denn dies, dessen war er sich bewusst und spürte er, brächte ihn an einen Wendepunkt, von dem aus es nur noch bergabwärts gehen konnte, und dazu war er schlichtweg nicht bereit, ebenso wenig wie Philipp, der seinem Bruder moralische Rückendeckung gab.
„Wir haben alle unsere Durchhänger, erst vor ein paar Wochen habe ich mich gefragt, wozu ich das alles mache, warum ich mich eigentlich um das Wohl anderer kümmere, es wäre für mich doch viel einfacher, wenn ich mich nur um meine eigenen Angelegenheiten kümmern würde. Doch wenn du ein moralisches, ein wirkliches moralisches Gewissen hast, dann kannst du nicht aus deiner Haut, so sehr dich dies mitunter belasten mag, so oft du der Resignation nahe sein magst. Du kannst dies nicht einfach abstreifen, ablegen wie ein Kleidungsstück, es ist ein Stück von dir selbst, das bist du, da kann dir niemand helfen. Und im Grunde genommen willst du das auch gar nicht, nur muss du dir darüber im Klaren sein, dass du nur wenig, ganz wenig bewegen, bewirken kannst, die Welt im Ganzen wirst du voraussichtlich genauso wenig verändern wie dies Julius vermag oder ich dies kann. Die kleinen Schritte sind es, die uns moralisch immer wieder aufrichten, uns aufs Neue motivieren. Oder etwa nicht? Dass soll nicht heißen, dass man das große Ziel aus den Augen verliert, ganz im Gegenteil, nur muss man die Bescheidenheit seiner Mittel realistisch einzuschätzen lernen!“
Philipps Analyse kam einem Schlusswort gleich, das Gespräch mündete in ruhigere Bahnen ein, frischte Erinnerungen an Thorwalds Jugend und dessen beinahe brüderliche Beziehung zu Claudes und Philipps Vater auf, mit dem der Geistliche zur Schule gegangen war. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in dessen Verlauf sie sich vorübergehend aus den Augen verloren hatten, waren sich die beiden jungen Männer wieder über den Weg gelaufen und hatten fortan ihren Kampf gegen Ungerechtigkeit und Intoleranz gemeinsam geführt, wenn auch jeder auf seine eigene Art und Weise. Doch mindestens einmal in der Woche war Thorwald, der unmittelbar nach dem Krieg sein Theologiestudium aufgenommen hatte, zu ihnen zu Besuch gekommen, hatte sich mit seinem ehemaligen Klassenkameraden den Kopf darüber heiß diskutiert, was sie tun könnten, um für ein klein wenig mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt zu sorgen. Jahre später hatten diese Gespräche dann seinen Bruder und ihn von klein auf geprägt, ihnen gleichsam den Pfad ins Leben gewiesen, den sie bis heute nicht bereit waren zu verlassen. Aus diesen frühesten Kindheitstagen rührte auch die ersatzväterliche Beziehung zwischen ihnen her, jenes tiefverwurzelte Vertrauensverhältnis. Aber nicht nur derart ernste, sachliche Angelegenheiten und Überlegungen hatte sie in der Vergangenheit zusammengeschweißt, regelmäßig hatten die Duchamps zusammen mit ihrem Familienfreund Ausflüge unternommen, waren gemeinsam in Museen oder Ausstellungen gegangen, ab und an waren sie sogar gemeinsam in Urlaub gefahren. So wurde Julius für Philipp und Claude zum zweiten Vater, der ihnen dann auch die nötige Stütze war, als ihr Vater verschied.
Wie bei fast all ihren Gesprächen, verließen sie das Terrain der seichten Konversation auch bei diesem Gespräch nach nicht allzu langer Zeit wieder und kamen, geradezu zwangsweise, erneut auf heiklere Themen zu sprechen, zu denen unter anderem ein Bauskandal in Thorwalds Gemeinde zählte, in den auch die Gemeindeverwaltung verstrickt war, die sich mit derartiger Unverfrorenheit über Rechtsverordnungen und Verträge hinwegsetzte, dass es diesmal Thorwald war, der sich ereiferte: „Ich kann euch nur sagen, wenn ich all die Gemeinderäte Sonntag für Sonntag bei mir in der Kirche sitzen sehe, wie sie frömmelnd die Unschuldsengel spielen, da wird mir schlecht. Denn kaum sind sie zur Kirchentür hinaus, setzen sie ihre Schweinereien fort, diese Heuchler. Spielen sich auf wie kleine Feudalherren, die mit ihren Mitbürgern umgehen können wie es ihnen beliebt, dabei sind sie lediglich deren gewählte Vertreter, die die Interessen ihrer Wähler zu vertreten haben, nicht ihre eigenen. Und weist man sie darauf hin, so schämen sie sich nicht einmal dafür, im Gegenteil, oft beschimpfen sie dich, dann bis du der Buhmann. Aber eben dies ist ja gegenwärtig eines unserer Grundübel, niemand schämt sich mehr für etwas, jedem wird heute fast alles nachgesehen, verziehen. Ganz gleich, was er auch angestellt hat, irgendeine fadenscheinige Entschuldigung findet sich immer, nur auf dem kleinen Mann wird rumgetrampelt. Klaut ein Arbeitsloser oder ein altes Mütterlein aus schierer wirtschaftlicher Not eine Kleinigkeit, dann ist die Justiz schnell herbei, fährt hingegen ein Politiker im Suff jemanden tot, so wird seine Strafe zur Bewährung ausgesetzt, wenn er nicht gleich ganz freigesprochen wird, seiner gesellschaftlichen Position wegen, wie es dann meist so schön heißt. Oder wird einer der noblen Herren der Korruption oder des Amtsmissbrauches überführt, na gut, dann verschwindet er halt vorübergehend von der Bildfläche, wird aus der Schusslinie genommen, spätestens zwei, drei Jahre später taucht er dann mit neuem Glorienschein wieder auf und tut so, als sei nie etwas passiert. Und was mich dabei am meisten fasziniert, ist die Tatsache, dass alle vergessen zu haben scheinen, dass er Dreck am Stecken hat. Ich bin nicht nachtragend, ich bin sehr wohl für Verzeihen und Vergeben, doch dann bitte schön allen gegenüber in gleichem Maße. Ich allerdings würde mich zunächst einmal in Grund und Boden schämen, würde ich eines derartigen Vergehens überführt, doch davon ist in unseren Tagen kaum noch irgendwo etwas zu spüren. Scham hat nichts mit Erniedrigung zu tun, ist keine Schwäche, im Gegenteil, wer sich noch schämen kann, beweist, dass er bereut, sich seiner Schuld bewusst ist, und dies ist schließlich die Voraussetzung, wenn ich mich, mein Verhalten ändern will. Scham ist ein Zeichen der Stärke, der charakterlichen Stärke, und daran mangelt es unserer Gesellschaft ganz gewaltig!“
Wie mit einem Brenneisen gebrannt hatten sich diese Worte damals in Claudes Bewusstsein eingeprägt, und mehr oder weniger tagtäglich fand er sie aufs Neue bestätigt, wann immer er die Zeitung aufschlug, Nachrichten sah, las oder hörte. Es war wirklich erstaunlich, oder besser beängstigend, mit welcher Dreistigkeit und Schamlosigkeit beispielsweise die gewählten Vertreter des Volkes einen oftmals zur Weißglut treiben konnten, diese ihre Bürger belogen, sie für dumm zu verkauften versuchten. Doch brauchten sie sich dann andererseits nicht zu wundern, wenn das Volk Politikverdrossenheit zeigt, den Staat seinerseits zu hintergehen versucht, wo es nur kann. Wer Vorbildfunktion innehat und dieser nicht gerecht wird, darf nicht erstaunt sein, dass seinen leeren Appellen nicht Folge geleistet wird.
„In wenigen Minuten erreichen wir Freiburg Hauptbahnhof. Dort haben Sie Anschluss an Intercity...“ Die von unregelmäßigem Knacken zerhackte Lautsprecherdurchsage holt Claude zurück in die Gegenwart. Der Zug rattert mittlerweile bereits durch die Vor-orte der badischen Stadt, die ihn, wie bei den allermeisten seiner vorherigen Besuche, mit Sonnenschein empfängt. Und während sich das Tempo allmählich verringert, die sich in Richtung Ausstieg begebenden Fahrgäste bei der Einfahrt auf das Bahnhofsgelände durch den wiederholten Gleiswechsel im Gang hin und her geschaukelt werden, packt Claude seine paar in der Ablage über ihm verstauten Sachen zusammen und tritt sodann aus dem Abteil auf den Gang hinaus. Mit einem letzten sachten Rucken kommt der Zug zum Stehen, der Bahnsteiglautsprecher verkündet dessen Ankunft und gibt diverse Anschlusszüge auf den Nachbargleisen durch. Ein lauer Frühlingswind streicht den Bahnsteig entlang, der von einem quirligen Menschengeflecht belebt ist. Ein suchender Blick nach rechts, dann nach links - noch ist Thorwald in dem Gewirr und Gewusel der eilends ihren Anschlusszügen Zustrebenden und der sich gemächlich gen Ausgang Orientierenden nicht auszumachen. Erst als Claude ein paar Schritte in Richtung Bahnsteigmitte getan und noch mehrere Male um sich geblickt hat, macht er die Gestalt seines Abholers zwischen zwei Grüppchen Jugendlicher aus, die zwei Waggons weiter stehen. Der plötzlich zum Gruß hochgereckte Arm signalisiert ihm, dass ihn jener nunmehr gleichfalls erkannt hat. Sekunden später liegen sie einander in den Armen, sich gegenseitig freundschaftlich kräftig auf die Schultern klopfend.
Thorwald, zivil gekleidet, hält Claude mit ausgestreckten Armen vor sich, so als wolle er den Neuankömmling einer Musterung unterziehen: „Schön, dass du da bist, auch wenn der Anlass kein besonders erfreulicher ist.“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Claude langt zu seinem Pilotenkoffer, den er bei der Begrüßung neben sich gestellt hat, woraufhin sich beide in Richtung Bahnhofsausgang in Bewegung setzen.
‚Er fährt ja immer noch den gleichen betagten Opel Kombi’, denkt Claude, als ihm Thorwald am Parkplatz die Wagentür öffnet. „Und wie geht es dir und deiner Gemeinde?“
Die leichte Ironie im zweiten Teil des Satzes ist dem Geistlichen nicht entgangen: „Danke, mir geht es soweit ganz gut, was indes meine Gemeinde anbelangt, so ist so ziemlich alles beim Alten geblieben. Knatsch hier, Knatsch da, Schweinereien hier, Schweinereien da, und jeder schiebt die Schuld auf den anderen. Mit einem Wort: Business as usual.” Das Schulterzucken zeugt nicht von Resignation, deutet nur an, dass sich der Redner der Realität voll bewusst und keineswegs bereit ist, sich in einem sinnlosen Kampf gegen Windmühlen aufzureiben. „Und du, was treibst du zur Zeit?“
„Wie du ja weißt, lebe ich seit etwa einem Jahr in San Francisco und gehe dort meiner Fotografiererei nach.“
„San Francisco ... eine schöne Stadt, zumindest nach alle dem, was ich im Fernsehen und in Zeitschriften gesehen und gelesen habe.“
„Oh ja, wozu auch ihre Bewohner einen Gutteil beitragen, ihre Freundlichkeit, ihr lockerer Umgang miteinander. Du solltest mich einmal besuchen kommen.“
„Gehst du denn wieder zurück?“
„Ich denke schon, was hält mich hier noch, jetzt wo Philipp tot ist.“ Zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen am Bahnhof wurde das Faktum, das letztendlich Anlass für Claudes Besuch ist, klipp und klar ausgesprochen, lässt das Gespräch für einige Sekunden ruhen. „Ich will nur abwarten, was die Untersuchungen der Polizei ergeben, d.h. ich werde voraussichtlich schon noch eine Weile im Lande sein, denn momentan scheint sie noch völlig im Dunkeln zu tappen. Und selbstverständlich muss ich mich um Philipps Beerdigung kümmern. In diesem Zusammenhang ist mir nach meinem Anruf gestern Abend die Idee gekommen, ob nicht du die Totenmesse und die Beisetzung von Philipp übernehmen möchtest. Ich glaube, dies wäre auch Philipps Wunsch gewesen.“
Ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern gibt Thorwald seine Einwilligung: „Selbstverständlich, gar keine Frage. Weißt du schon wann und wo?“
„Nein. Ich weiß zwar nicht, warum es so lange dauert, doch noch haben sie den Leichnam nicht freigegeben. Lange kann es aber eigentlich nicht mehr dauern. Und wo? Ich hätte ihn gerne an der Seite meiner Eltern beigesetzt.“
„Schön. Du musst mich nur das genaue Datum wissen lassen.“ Ungläubig schüttelt Thorwald den Kopf: „Deine Nachricht heute Nacht hat mich schockiert, bis jetzt kann ich nicht recht glauben, was du mir gesagt hast. Erzähle mir, was eigentlich genau passiert ist.“
Während sie die Stadt durchqueren und deren Außenbezirke erreichen, lässt Claude - sich auf das Wesentliche konzentrierend - die vergangene Woche szenenhaft Revue passieren, gelegentlich unterbrochen von Fragen des Wagenlenkers, der die meiste Zeit konzentriert geradeaus schaut, nur sporadisch, und zwar immer dann, wenn er den Berichterstatter unterbricht, einen Blick über seine rechte Schulter wirft. Nach einer guten halben Stunde gleitet der altersschwache Personenwagen in die Hofeinfahrt des Pfarramtes. Claude ist bei der Anfahrt nicht entgangen, dass die Ortschaft seit seinem letzten Besuch merklich gewachsen ist, Neubaugebiete - umrahmt von architektonisch phantasielosen, omnipräsenten Industrie- und Gewerbeansiedlungen - das Ortsbild verschandeln. „Ist ja grässlich, was hier aus dem Boden gestampft wurde. Schöner ist der Ort dadurch nicht gerade geworden!“
„Ich habe dir doch gesagt, es hat sich nichts geändert, noch immer das gleiche Leid: Eine Hand wäscht die andere, und eine ist so schmutzig wie die andere.“
„Das so etwas genehmigt wird? Gibt es denn keine Bebauungspläne, Bauverordnungen?“
„Vergiss es, alles nur Makulatur. Es hält sich doch keiner daran. Und warum? Weil keiner, oder fast keiner etwas dagegen unternimmt, und wenn, dann fallen die Strafen derart gering aus, dass sie aus der Portokasse bezahlt werden können. Abschreckung also gleich Null! Und die meisten interessiert es doch ohnehin nicht, außer vielleicht man würde ihnen solch einen architektonischen Schandfleck direkt vor die eigene Nase setzen. Doch jetzt komm erst einmal herein.“
Im Pfarrhaus selbst hat sich dem ersten Anschein nach nichts geändert, zumindest nichts, was Claude auf den ersten Blick auffällt. Gewöhnlich kein Freund hoher Wohnräume, fühlt sich Claude in der vom dunklen Mobiliar und der von den an den Wänden hängenden beziehungsweise auf Sockeln und Podesten stehenden kleineren und größeren Kunstwerken geschaffenen behaglichen Atmosphäre sofort wieder wie zu Hause, durchflutet ihn zum ersten Mal seit dem Auffinden seines Bruders das Gefühl der Geborgenheit, des Nicht-Allein-Seins, wozu sicherlich auch die vielen Grünpflanzen beitragen, an denen er sich als großer Blumenliebhaber noch nie hat sattsehen können. Dazu die milde Nachmittagssonne, die von dünnen Wolkenschlieren zart verschleiert durch die beiden großen Glastüren in das Wohnzimmer hereinflutet, durch die man auf die Terrasse und in den Pfarrgarten gelangt, in dem unter anderem uralte Obstbäume stehen, die Jahr für Jahr reichliche Ernte bescheren. Wie oft haben er und sein Bruder sich an deren schmackhaften, mitunter schrumpeligen, da nicht auf Industrienorm getrimmten Früchten delektiert.
„Ich mache uns erst einmal einen Kaffee“, lässt sich Thorwald aus der Küche vernehmen. „Mache es dir inzwischen bequem.“
An den Terrassentüren stehend, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, gleiten Claudes Blicke über den von seinem väterlichen Freund liebevoll gepflegten Garten, in dem sie, wenn es die Temperaturen zuließen, zusammen mit Philipp so manch eine Nacht hindurch schwatzend gesessen sind. Schemenhaft taucht dabei das Bild seines Bruders vor ihm auf, wie er mit ihnen gelacht und geschimpft hat. Die die Sonne ganz allmählich immer stärker einhüllenden Wolkenformationen deuten auf Regen hin.
„So, der wird uns guttun“, reißt ihn der Geistliche aus seinen Tagträumen, ein Tablett mit zwei Tassen, einer Zuckerdose und einer Kaffeekanne vor sich her balancierend, das er auf dem ovalen Couchtisch abstellt, woraufhin er, nach dem Verteilen der Tassen, mit dem Eingießen des Kaffees beginnt, dessen verführerisches Aroma Sekunden später das Zimmer füllt und Claude an den Tisch lockt, wo er sich in einen der breiten, cremefarben bezogenen Sessel fallen lässt. „Trinkst du ihn immer noch schwarz?“
„Ja, schwarz wie die Nacht“, bestätigt Claude die Vermutung des Gastgebers.
Dieser sitzt noch nicht richtig, da springt er bereits wieder auf und holt von dem in der Zimmerecke stehenden Sideboard jenes ominöse Päckchen, dessentwegen Claude hier ist: „Entschuldige, fast hätte ich vergessen, weswegen du eigentlich gekommen bist. Hier ist der Brief, den ich dir gestern Abend vorgelesen habe, und dies ist das dazugehörende Päckchen.“
Claude nimmt beides entgegen, fingert das Briefpapier aus dem Umschlag und saugt die handschriftlich festgehaltenen Worte seines Bruders förmlich in sich auf. Das Schreiben trägt das Datum 1. April. ‚Leider kein Aprilscherz’, durchzuckt es den Leser. Einen ersten Schluck des noch immer brühheißen Kaffees zu sich nehmend, begutachtet er sodann das unscheinbare Päckchen, das möglicherweise von explosiver Sprengkraft ist. Da er rein äußerlich beim besten Willen nichts Auffälliges zu erkennen vermag, schneidet Claude mit Hilfe der von Thorwald herbeigeholten Schere das Klebeband durch, mit dem sein Bruder das Päckchen rundherum zugeklebt hat. Er ist selber über seine Ruhe erstaunt, mit der er den Kartondeckel öffnet und die drei dicken wattierten Umschläge herausnimmt, die er als Inhalt vorfindet. Ein weiteres Schreiben, wie er es zu finden gehofft hat, steckt indes nicht darin, und auch nicht in den drei Umschlägen, wie ihm ein erster flüchtiger Blick in alle drei verrät. Daher entnimmt er dem ersten der drei einen Packen säurefreier Spezialklarsichthüllen, in denen ordentlich sortiert Fotoabzüge stecken, einschließlich der jeweils dazugehörenden Negative. Seine Tasse zur Seite schiebend, breitet er sie vor sich auf dem Tisch aus, und zwar so, dass sie Thorwald, der schräg über Eck in einem der anderen Sessel Platz genommen hat, gleichfalls unter die Lupe nehmen kann. Rastlos, haltlos schweifen beider Blicke über die geheimnisumwitterten Fotos, jedoch ohne jedwedes greifbares Ergebnis.
„Sagen sie dir irgendetwas?“, forscht Claude bei seinem Freund nach, der ihm allerdings nur mit einem negierenden Kopfschütteln antworten kann. „Dann lass uns einmal in den zweiten Umschlag schauen“, versucht Claude ihm und sich Mut zu machen. Auch dieser enthält mehrere Dutzend Klarsichthüllen mit Aufnahmen, auf denen viele unterschiedliche, ihnen unbekannte Personen zu erkennen sind. Manche davon tauchen zwar immer wieder auf, meist allerdings mit verschiedenen Partnern oder Partnerinnen. Ein Hinweis darauf, wer diese sind und wo die Aufnahmen gemacht wurden, findet sich jedoch nicht. Als auch der Inhalt des letzten Umschlages ihnen beim ersten flüchtigen Überfliegen keine Anhaltspunkte liefert, beschließen sie, die Bilder noch einmal sorgfältig, Aufnahme für Aufnahme durchzugehen. Um eventuell wichtige Details oder Personen auf den 20 mal 30 Zentimeter großen Abzügen besser erkennen zu können, holt Thorwald ein Vergrößerungsglas.
Je länger und öfter sie die Aufnahmen in Augenschein nehmen, kristallisieren sich immer deutlicher einige Hauptakteure heraus, rund ein Dutzend Personen, die praktisch auf jedem der Fotos zu erkennen sind, zumindest eine von ihnen, manchmal auch mehrere, auf vier Aufnahmen sogar alle zusammen. Darunter befinden sich auch eine Frau und zwei Asiaten, allem Anschein nach Chinesen oder Vietnamesen. Bei den auf etlichen Aufnahmen auftauchenden Damen lässt sich nicht erkennen, in welcher Beziehung sie zu den darauf zu erkennenden Männern stehen, ob überhaupt eine besteht, doch fällt auf, dass auf diesen Bildern relativ häufig Pärchen auftauchen, wobei die dabei gezeigten Damen vielfach ganz offensichtlich asiatischen Ursprungs zu sein scheinen. Da es sich bei den Fotos fast ausnahmslos um Innenaufnahmen handelt, sehen sich Claude und sein Mit-Begutachter außerstande, ihnen bekannte Lokalitäten auszumachen, einige im Hintergrund beziehungsweise an den Randpartien zu erkennende, sich voneinander unterscheidende Details geben indes Anlass zu der Vermutung, dass die Bilder an verschiedenen Orten entstanden, und zwar großen- oder sogar größtenteils in Bars oder Nachtklubs, einige wenige aber auch in Restaurants oder Hotels. Aus der unter dem Vergrößerungsglas klar zu erkennenden groben Körnung zieht Claude die Schlussfolgerung, dass sein Bruder mit für ihn ungewöhnlich hochempfindlichem Schwarz-Weiß-Material gearbeitet haben muss, wofür auch die Ausleuchtung spricht, denn auf keiner einzigen der Aufnahmen ist der Einsatz von Blitzlicht oder einer anderen künstlichen Beleuchtungsquelle zu erkennen. Die feststellbare Grobkörnigkeit und die Tatsache, dass die Bilder unter Available-Light-Bedingungen entstanden, lassen Claude zu dem Ergebnis kommen, dass Philipp bei der Erstellung des vor ihm liegenden Bildmaterials mit reichlich miesen Lichtverhältnissen zu kämpfen gehabt haben muss und seine fotografische Aktivität wahrscheinlich möglichst unerkannt bleiben sollte.
„Das Ganze sieht mir irgendwie nach Unterwelt- oder Rotlichtmilieu aus“, resümiert Claude seine Analysen zu Thorwald gewandt, „nur ist mir nicht ganz klar, was Philipp da gesucht hat und wer all die Personen auf den Fotos sind. Soviel ich weiß, hat sich mein Bruder sonst nie in derlei Etablissements aufgehalten. Schade, dass er nichts dazu geschrieben hat, dann ließe sich vielleicht erkennen, worin die Brisanz dieser Bilder besteht, denn offen gesagt, so sehen sie für mich recht harmlos aus.“
„Stimmt, so recht schlau werde ich auch nicht daraus. Und Philipp hat dir gegenüber bei seinem letzten Telefonat nicht irgendeine Andeutung gemacht?“
„Nein, er hat mir ja noch nicht einmal gesagt, dass er dieses Material an dich geschickt hat. Nur dass er in irgendetwas hineingeraten sei, wodurch er sich bedroht fühlte, aber offensichtlich nicht so sehr, dass er um sein Leben fürchtete, denn sonst hätte er mir sicherlich mehr mitgeteilt.“ Sind diese Aufnahmen, die sich über den großen Couchtisch, auf der Couch und dem dritten Sessel ausbreiten, tatsächlich der Grund für Philipps Tod, oder haben sie mit dem Mord gar nichts zu tun? Alles ist so widersprüchlich, dem Ganzen fehlt die Logik, die Sorgfalt, die Claude von seinem Bruder gewohnt ist. Dass er den Bildern keinen Kommentar beigelegt, sie nicht einmal beschriftet hat, aus alle dem vermag er nur den Schluss zu ziehen, dass der Ermordete sie überstürzt zusammengestellt und abgeschickt hat, trotz der in dem mitgeschickten Schreiben auch auf seine Person Bezug nehmenden Äußerung davon ausgehend, nur er selber werde das Material weiter verwenden.
„Es wäre enorm wichtig zu wissen, wo die Aufnahmen gemacht wurden. Nur so können wir eventuell herausfinden, um wen es sich bei den Abgebildeten handelt und warum das Material Philipps Ansicht nach so wichtig ist.“
„Wie wäre es, wenn du in Frankfurt zur Polizei gehst? Alt scheinen die Aufnahmen ja nicht zu sein, sonst hätte dich Philipp schon früher informiert, und wie du selbst erwähnt hast, hat dein Bruder in letzter Zeit fast ausschließlich in und um Frankfurt gearbeitet. Also durchaus möglich, dass die Aufnahmen in Frankfurt gemacht wurden, entsprechende Etablissements...“, Thorwald zeigt auf eine Reihe von Bildern, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Rotlichtmilieu gemacht wurden, „...gibt es dort ja genug. Möglicherweise erkennt man bei der Polizei die eine oder andere Person auf den Bildern. Etwas Besseres fällt mir im Moment leider nicht ein.“
„Einen Versuch ist es zumindest wert.“ Claude überlegt, ob er den Kriminalbeamten bei der Vorlage der Fotos reinen Wein einschenken, ihnen alles im Zusammenhang damit Stehende erzählen soll. Da ihm gegenwärtig nichts sehnlicher am Herzen liegt als die Aufklärung des Mordes, wird ihm gar nichts anderes übrig bleiben. Doch schon in diesem Augenblick fasst er den Entschluss, den Beamten notfalls nur Abzüge auszuhändigen, die Originale hingegen keinesfalls aus den Händen zu geben. „Ich gehe morgen ... halt nein, morgen ist ja Samstag … also dann eben am Montag aufs Präsidium, mal sehen, ob die mir dort Auskunft geben können beziehungsweise ich ihnen damit weiterhelfen kann.“
Erfreut darüber, dass das bevorstehende Wochenende eine sofortige Abreise Claudes nicht erforderlich macht, lädt ihn der Geistliche ein: „Dann kannst du das Wochenende bei mir bleiben. Das wird dir guttun, außerdem können wir uns schon einmal Gedanken über die Beisetzung machen. Und vielleicht fällt uns ja doch noch etwas zu den Bildern ein.“
Claude zögert nicht lange, leistet der Einladung gerne Folge, beharrt allerdings darauf, bereits am Sonntagvormittag abreisen zu wollen, um am nächsten Morgen gleich den Hauptkommissar aufsuchen zu können, wie er vorgibt, insgeheim jedoch mit dem Hintergedanken, nach seiner Rückkehr nach Frankfurt zunächst einmal neue Abzüge der Aufnahmen anzufertigen.
„Ich weiß schon, du willst erst noch Abzüge anfertigen, ehe du zur Polizei gehst“, hat Thorwald ihn durchschaut, womit er Claude ein weiteres Mal beweist, wie genau er ihn kennt, er ihm nichts zu verheimlichen imstande ist. „Stimmt's?“
Claudes breites Lächeln ist an und für sich Antwort genug: „Ja. Es ist schlimm mit dir“, foppt er ihn, „für dich bin ich der reinste gläserne Kasten.“ ‚Einen solchen Freund bräuchte jeder Mensch’, geht es ihm durch den Kopf. „Weißt du was, ich habe Hunger bekommen. Hast du zufällig von dem phantastischen Landschinken im Haus?“
„Aber sicher, extra heute für dich besorgt!“ Während Claude die ausgebreiteten Fotos zusammenschiebt und in die Kuverts zurücksteckt, trägt der Hausherr das Kaffeegeschirr in die Küche, in die ihm sein Gast sodann folgt, den würzigen Geschmack des über offenem Feuer geräucherten Bauernschinkens auf der Zunge, mit dem Thorwald seinen Bruder und ihn in all den Jahren bei jedem ihrer Besuche kulinarisch zu verwöhnen wusste.